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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören
Autoren: J Sendker
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gehen wollte, mit sanftem Druck zurückhielt.
    Die Sonne warf nun lange Schatten, bald würde sie hinter den Bergkuppen verschwinden. Die Luft war merklich kühler geworden.
    Im Hotel wartete U Ba an der Rezeption, ich ging in den ersten Stock, holte meine Sachen und bezahlte aus Höflichkeit mein Zimmer für zwei Nächte.
    U Ba nahm meinen Rucksack, ignorierte all meine Proteste und eilte voran.
    Worauf hatte ich mich eingelassen? War ich in der Lage, in dieser Hütte zu wohnen? Ein Plumpsklo zu benutzen, mich am Brunnen im Hof zu waschen? Ich überlegte, mit welcher Ausrede ich meinem Bruder morgen den Umzug zurück ins Kalaw Hotel erklären könnte.
    Er stellte eine Thermoskanne mit Tee, zwei Becher und einen Teller mit gerösteten Sonnenblumenkernen auf ein Tablett, und wir gingen ins Wohnzimmer.
    Ich nippte an meinem Tee, allmählich spürte ich die Anstrengungen der Reise.
    »Hat das Leben«, fragte er, nachdem er sich wieder gesetzt hatte, »haben die Sterne es gut mir dir gemeint in der letzten Zeit?«
    Mir geht es gut. Danke. Alles bestens. Alles wunderbar. Ich kann nicht klagen. Es könnte schlechter gehen. Mir gingen alle Floskeln durch den Kopf, mit denen ich in New York eine ähnliche Frage beantwortet hätte. Meinem Bruder gegenüber wäre jede einzelne eine Beleidigung gewesen.
    »Eine gute Frage«, erwiderte ich ausweichend.
    »Eine dumme Frage«, widersprach er. »Verzeih mir, dass ich sie so unüberlegt gestellt habe. Ob das Leben und die Sterne es gut oder schlecht mit uns gemeint haben, wissen wir ja oft erst viele Jahre später. Das Leben nimmt die eigenwilligsten Wendungen. Was wir als Unglück ansehen, kann sich später als Segen herausstellen und umgekehrt, nicht wahr? Eigentlich wollte ich nur wissen, ob es dir gut geht. Ob du glücklich bist. Ob du geliebt wirst. Alles andere ist unwichtig.«
    Ich schaute ihn im Kerzenschein an und kämpfte mit den Tränen. Ich wusste nicht, ob aus Trauer, dass ich seine Frage nicht mit einem lauten, überzeugten Ja beantworten konnte, oder ob mein Bruder mich so tief rührte.
    Wurde ich geliebt? Von meiner Mutter selbstverständlich. Auf ihre Weise. Bei meinem Bruder war ich mir nicht sicher.
    Von Amy.
    Zwei Menschen. Zwei sehr unterschiedliche Arten der Liebe. Mehr fielen mir nicht ein.
    Genügte das? Wofür? Von wie vielen Menschen müssen wir geliebt werden, um glücklich zu sein? Zwei? Fünf? Zehn? Oder doch nur von einem? Diesem einen, der uns zum Sehenden macht. Der uns die Angst nimmt. Der unserem Sein einen Sinn einhaucht.
    Mein Bruder spürte mein Unbehagen. »Verzeih, dass ich überhaupt gefragt habe. Wie anmaßend von mir. Wie konnte ich so unachtsam sein und einfach losfragen, kaum hast du mein Haus betreten. Als gäbe es kein Morgen. Als hätten wir nicht alle Zeit der Welt, uns zu erzählen, was für die Ohren des anderen bestimmt ist. Es tut mir furchtbar leid. Es muss die Aufregung sein. Und die Freude, dich endlich wiederzusehen. Trotzdem ist mein Verhalten natürlich auch damit nicht zu entschuldigen. Ich kann nur auf deine Nachsicht hoffen.« Er legte einen Finger auf den Mund. »Und kein Wort mehr heute Abend zu diesen aufdringlichen Fragen.«
    Seine Art sich auszudrücken, brachte mich zum Lachen. »Versprochen. Aber ich glaube sowieso, dass ich ins Bett muss.«
    Er sprang auf. »Natürlich. Noch eine Unaufmerksamkeit meinerseits. Ich werde sofort dein Bett bereiten.«
    Ich beharrte darauf, auf dem Sofa zu schlafen. Ich hörte ihn noch vor dem Haus mit Wasser hantieren, hustend die Verandatreppe hochgehen und in sein knarzendes Bett steigen. Kurz darauf löschte er die Kerze.
    Das Sofa war bequemer, als ich gedacht hatte, ich erinnerte mich jetzt, wie gut ich damals darauf geschlafen hatte. Trotz meiner Erschöpfung fiel es mir schwer einzuschlafen.
    Ich dachte an meinen Vater, und zum ersten Mal nach langer Zeit wünschte ich, er säße neben mir, hielte meine Hand, spräche mit seiner beruhigenden Stimme zu mir. Ihn hatte ich bei meiner Aufzählung vergessen. Auch die Liebe der Toten zählte. Sie konnte uns keiner nehmen.
    Ein tröstlicher Gedanke, schlafen konnte ich noch immer nicht. Ich ahnte, dass ich noch Besuch bekommen würde. Es dauerte einige Minuten, in denen ich ruhig auf dem Sofa lag und den Insekten lauschte, bis ich sie hörte.
    Bitte, fahr wieder ab.
    Es war das erste Mal seit meiner Abreise, dass sich die Stimme meldete. Ich wusste, was sie wollte. Sie hatte mich in New York fortwährend vor dieser Reise gewarnt.
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