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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören
Autoren: J Sendker
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mich in die Luft warf und wieder auffing.
    Ich wusste, warum er bei uns geblieben war und warum er nach fünfzig Jahren zu Mi Mi zurückkehrte. Es war mehr als nur die Verantwortung für uns, die ihn in New York gehalten hat. Ich war mir sicher, er liebte seine Familie, meine Mutter, meinen Bruder und mich, jeden auf seine Weise. Und er liebte Mi Mi. Beiden Lieben ist er treu geblieben, und dafür war ich ihm dankbar.
    »Es gibt noch ein Detail, das Sie vielleicht interessiert«, sagte U Ba.
    Ich blickte ihn fragend an.
    »Der Berg Reisig mit Mi Mis Leiche lag dort«, er zeigte auf einen runden Kreis, ein paar Schritte von meinen Füßen entfernt. »Der von ihrem Vater dort drüben, vielleicht zwanzig Meter weiter unten. Die beiden Haufen wurden zur selben Zeit angezündet. Das Holz war trocken, und die Flammen fraßen die Zweige auf. Es war ein sehr windstiller Tag. Die Rauchsäulen stiegen senkrecht in den Himmel.«
    So viel hatte er mir schon erzählt. Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte. »Und?«
    »Dann wurde es still«, sagte er und lächelte.
    »Still?«
    »Ganz still. Trotz der vielen Menschen, die versammelt waren. Niemand sagte ein Wort. Selbst die Feuer hörten auf zu knistern und brannten lautlos vor sich hin.«
    Da war mein Vater wieder, auf der Bettkante sitzend. Ein hellrosa gestrichenes Zimmer. Gelbschwarz gestreifte Bienen unter der Zimmerdecke. »Und die Tiere fingen an zu singen?«, fragte ich.
    U Ba nickte. »Viele der Trauergäste behaupteten später, sie hätten Tiere singen hören.«
    »Und plötzlich, niemand wusste warum, bewegten sich die beiden Rauchsäulen?«
    »Ich kann es bezeugen.«
    »Obwohl es windstill war, trieben sie aufeinander zu, bis…?«
    »Nicht alles, was wahr ist, kann man erklären, Julia«, unterbrach er mich. »Und nicht alles, was man erklären kann, ist wahr.«
    Ich blickte auf die Stellen, wo sich die Holzhaufen mit den Leichen befunden hatten und dann in den Himmel. Blau war er. Blau und wolkenlos.
    12
    I ch erwachte in der Dunkelheit. Ich lag in meinem Bett im Hotel. Ein Traum hatte mich geweckt. Ich war zwölf oder dreizehn Jahre alt, es war mitten in der Nacht in unserem Haus in New York. Ich hörte Geräusche aus dem Schlafzimmer meines Vaters. Die Stimmen meines Bruders und meiner Mutter. Mein Vater röchelte. Ein lautes, unheimliches Geräusch, das durchs ganze Haus hallte, und es klang nicht nach einem Menschen. Ich stand auf. In meinem weißen Nachthemd ging ich über den Flur, das Holz war kalt an den nackten Füßen. Im Zimmer meines Vaters brannte Licht. Meine Mutter kniete neben seinem Bett. Sie weinte. »Nein«, stammelte sie. »Um Gottes willen, nein. Nein, nein, nein.«
    Mein Bruder schüttelte meinen Vater. »Wach auf, Papa, wach auf.« Er kniete sich über ihn und massierte ihm die Brust, beatmete ihn. Mein Vater schlug mit den Armen. Seine Augen waren weit hervorgetreten, sein Haar war nass vom Schweiß. Er klammerte. Er kämpfte. Er wollte nicht gehen.
    Noch einmal stöhnte er laut auf. Seine Arme bewegten sich langsamer, sie zuckten und erschlafften. Sekunden später hingen sie reglos aus dem Bett.
    Der Traum hatte mich geweckt, und ich verstand, wie gnädig die Wirklichkeit gewesen war.
    Ich schloss die Augen und versuchte, mir die letzten Stunden meines Vaters mit Mi Mi vorzustellen. Es gelang mir nicht. Ich musste mir eingestehen, dass dies ein Teil von ihm war, den ich nicht kannte. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr begriff ich, dass es für mich keinen Grund zur Trauer gab. Ich spürte eine Nähe zu meinem Vater, die ich nicht erklären und nicht beschreiben konnte. Es war die eines Kindes, natürlich und bedingungslos. Sein Tod war kein tragisches Unglück, weder für mich noch für ihn. Er hatte sich nicht dagegen gewehrt. Er hatte Abschied genommen. Er war gestorben, wann und wo er wollte. Bei wem er wollte. Dass nicht ich es war, die an seiner Seite saß, war nicht wichtig. Mit seiner Liebe zu mir hatte das nichts zu tun. Nach ein paar Minuten schlief ich wieder ein.
    Als ich aufstand, war es später Vormittag. Es war heiß in meinem Zimmer und die kalte Dusche tat gut.
    Der Kellner schlief in einer Ecke des Speisesaals. Vermutlich hatte er seit sieben Uhr auf mich gewartet. Rühr- oder Spiegelei. Tee oder Kaffee.
    Ich hörte die Frau vom Empfang über den Flur schlurfen. Sie kam quer durch den Raum zu mir, deutete einen Knicks an und legte einen braunen Umschlag auf meinen Tisch. U Ba habe ihn heute frühmorgens
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