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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören
Autoren: J Sendker
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zusammen.«
    »Woran ist sie gestorben?«
    U Ba dachte lange nach. »Diese Frage erlauben wir uns nicht, weil wir darauf selten eine Antwort bekommen würden. Sie sehen die Armut, in der wir leben. Der Tod gehört bei uns zum Alltag. Ich vermute, die Menschen in meinem Land sterben jünger als in Ihrem. Vergangene Woche bekam der achtjährige Sohn einer Nachbarin über Nacht hohes Fieber. Zwei Tage später war er tot. Uns fehlt es an Medikamenten, um selbst die einfachsten Krankheiten zu behandeln. Die Frage nach dem Warum, die Suche nach einer Todesursache, ist unter solchen Umständen ein Luxus. Meine Frau starb in der Nacht. Ich erwachte morgens und fand sie tot neben mir. Mehr weiß ich nicht.«
    »Das tut mir Leid.«
    Wir schwiegen lange. Ich überlegte, ob ich, von meinem Vater abgesehen, schon jemanden verloren hatte, den ich gut kannte. Die Eltern meiner Mutter lebten noch. Der Bruder einer Freundin war im vergangenen Jahr im Atlantik ertrunken. Mit ihm waren wir häufiger an Wochenenden in Sag Harbour und Southampton unterwegs gewesen. Ich mochte ihn, aber er war mir nicht nah. An seiner Beerdigung konnte ich nicht teilnehmen, ein Termin in Washington kam dazwischen. Die Mutter meiner Tennispartnerin war kürzlich an Krebs gestorben. Bei ihr hatte ich als Kind Klavierunterricht gehabt. Sie hatte lange gelitten, und ich hatte meinen versprochenen Krankenbesuch immer wieder aufgeschoben, bis es zu spät war. Ich war wohl der Meinung, dass bei uns der Tod nicht allgegenwärtig sei, dass es die Welt der Kranken und Sterbenden gebe und die Welt der Gesunden, und dass die Gesunden von der Welt der Kranken und Sterbenden nichts wissen möchten. Als hätten sie nichts miteinander zu tun. Als genüge nicht ein falscher Schritt auf dünnem Eis, eine vergessene Kerze, um von der einen in die andere zu gelangen. Ein Röntgenbild mit einem weißen Knoten in der Brust.
    U Ba stand auf und brachte die Teller in die Küche. Er blies mehrmals kräftig ins Feuer, legte einen Holzscheit nach und setzte Wasser auf.
    »Ich möchte keinen Tee«, rief ich in die Küche. »Ich würde gern auf den Friedhof gehen. Ich möchte sehen, wo sie verbrannten. Kommen Sie mit?«
    »Natürlich«, sagte U Ba durch die Holzwand.
    Unsere Schritte wurden langsamer. Ich war außer Atem, doch das lag nicht an dem Winkel, in dem die Straße den Hügel bergauf führte. Es war ein sanfter Anstieg. Wir waren auf dem Weg zur letzten Station meiner Suche. Ich hatte vor dem Haus gestanden, in dem mein Vater starb. Ich hatte in dem Garten gesessen, in dem er seine Kindheit und Jugend verbrachte. Nun wollte ich wissen, wo seine Reise endete.
    »Es gibt kein Grab und auch keinen Gedenkstein. Der Wind hat seine Asche in alle Richtungen verstreut«, hatte U Ba mich gewarnt. Ich fürchtete mich vor dem Anblick des Friedhofs. Als würde ich damit zugeben, dass auch meine Reise ein Ende hatte.
    Die notdürftig geteerte Straße versandete allmählich und ging in einen holprigen Lehmweg über, und bald konnte ich, zwischen Büschen und vertrockneten Gräsern versteckt, die ersten Gräber ausmachen. Graubraune Betonplatten, viele davon verziert und mit birmanischen Inschriften versehen, manche aber lagen völlig schmucklos und ohne Gravuren im Staub, als wären es Reste einer Baustelle, die vor Jahren aufgegeben worden war. Einige hatten Risse bekommen, aus denen Gräser wuchsen, andere waren von Gestrüpp überwuchert. Es gab keine frischen Blumen zu sehen, keine der Grabstätten war gepflegt.
    Wir kletterten den Hügel bis zur Kuppe hinauf und setzten uns. Ein verlassener Ort. Die einzigen Spuren menschlichen Bemühens waren Trampelpfade, die sich wie Ameisenstraßen durch die Berge zogen. Es war still. Nicht einmal der Wind rauschte.
    Ich dachte an unsere Spaziergänge. An die Brooklyn Bridge, die Staten-Island-Fähre, an unser Haus und den Geruch von warmen Zimtschnecken am Morgen.
    Weiter konnte ich von Manhattan nicht entfernt sein. Ich vermisste es nicht. Ich spürte eine fast unheimliche Ruhe in mir. Mir kamen die Abende in den Sinn, an denen er mir Märchen erzählte. Die Opernaufführungen im Central Park. Klappstühle und ein viel zu schwerer Picknickkorb. Mein Vater duldete kein Plastikgeschirr und keine Pappbecher. Er trug einen schwarzen Anzug, als säße er in der Met. Eine warme Sommernacht. Kerzenschein. Jedes Mal schlief ich auf seinem Schoß ein. Ich dachte an seine sanfte Stimme und sein Lachen, seinen Blick und die kräftigen Hände, mit denen er
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