Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören
Autoren: J Sendker
Vom Netzwerk:
Reiskuchen, auf denen immer Dutzende von Fliegen gesessen hatten. »Sie haben sich verbessert.«
    »Du hast ihnen Glück gebracht«, erwiderte U Ba und strahlte mich an.
    Mein Bruder betrachtete mich lange, ohne ein Wort zu sagen. Der Tee kam in zwei Espressotassen. In meiner schwamm ein totes Insekt. »Oh, so sorry«, sagte die Kellnerin, als ich sie darauf hinwies. Sie nahm einen kleinen Löffel, fischte das Tier aus dem Tee und warf es über das Geländer. Ich war zu überrascht, um etwas zu sagen, und sie entfernte sich mit schlurfenden Schritten.
    »Möchtest du einen neuen?«, fragte U Ba.
    Ich nickte.
    Mit flinken Bewegungen tauschte er unsere Tassen.
    »So war das nicht gemeint«, sagte ich beschämt.
    Der Tee hatte einen ganz eigenen Geschmack, wie ich ihn nur aus Burma kannte. Sehr stark, eine leichte Bitterkeit, überlagert von gesüßter Kondensmilch.
    U Ba nippte an seiner Tasse, ohne die Augen von mir zu lassen. Es war kein Blick, der etwas provozieren wollte. Keiner, der abschätzte, kalkulierte oder musterte. Er ruhte auf mir. Trotzdem verunsicherte er mich. Zehn Jahre waren vergangen. Warum sprudelten die Worte nicht aus uns heraus? Wie geht es dir? Was machst du? Hatten wir uns nichts zu sagen nach so langer Zeit?
    Ich wollte die Stille zwischen uns beenden, doch er bedeutete mir mit den Augen, noch einen Moment zu schweigen. Die Kellnerin servierte zwei Schalen mit dampfenden Nudelsuppen.
    »›Der Flüchtigkeit trotzen. Nicht in Gedanken gleich weiterreisen und auch nicht mit der Vergangenheit verhaftet bleiben. Die Kunst, anzukommen. An einem, nur einem Ort zur selben Zeit zu sein. Ihn mit allen Sinnen wahrnehmen. Seine Schönheit, seine Hässlichkeit, seine Einzigartigkeit. Sich überwältigen lassen, ohne Furcht. Die Kunst zu sein, wo man ist.‹ Das habe ich einmal in einem Buch gelesen, das ich restaurierte. Ich glaube, der Titel war ›Über das Reisen‹. Gefällt es dir?«
    Ich nickte, auch wenn ich nicht genau wusste, was er meinte.
    Er neigte den Kopf zur Seite und lächelte mich an. »Du bist wunderschön. Noch schöner, als ich dich in Erinnerung gehabt habe.«
    Ich lachte verlegen.
    »Heute ist der Fünfzehnte, was für ein Zufall«, sagte ich und hoffte, er würde die Anspielung verstehen.
    »Ich weiß. Wie könnte ich das vergessen.« Ein Schatten flog über sein Gesicht.
    »Gibt es die Prozession zu Ehren von Mi Mi und unserem Vater noch?«
    U Ba schüttelte ernst den Kopf, ließ den Blick verlegen durch das Lokal schweifen. Er beugte sich zu mir vor und flüsterte: »Das Militär hat sie verboten.«
    »Wie bitte?«, fragte ich zurück. Laut. Viel zu laut. »Warum?«
    Er zuckte kurz. Die Soldaten am Nachbartisch erhoben sich, warfen uns beim Gehen neugierige Blicke zu, stiegen vor dem Teehaus in einen Armeejeep und fuhren davon. Sie hinterließen eine Wolke aus Staub, die in unsere Richtung zog und sich dann traurig zwischen den Hockern und Tischen niederließ. Ich hustete einmal kurz.
    Mein Bruder hingegen atmete sichtbar auf. »Die Armee mag keine Demonstrationen.«
    »Auch nicht, wenn dabei nur zweier Liebender gedacht wird?«, wunderte ich mich.
    »Dann am allerwenigsten.« Er nippte an seinem Tee. »Wovor haben Menschen mit Gewehren die größte Angst? Vor anderen Menschen mit Gewehren? Nein! Was fürchten gewalttätige Menschen am meisten? Gegengewalt? Mitnichten! Wovon fühlen sich grausame, selbstsüchtige Menschen am meisten bedroht? Sie alle haben vor nichts mehr Angst als vor der Liebe.«
    »Aber die Leute haben doch nur Blumen zu Mi Mis Haus gebracht. Was war daran so gefährlich?«
    »Liebende sind gefährlich. Sie haben keine Angst. Sie gehorchen anderen Gesetzen.«
    U Ba wollte bezahlen, die Kellnerin sagte etwas auf Burmesisch, was ich nicht verstand, mein Bruder erwiderte einige Sätze, und beide lachten.
    »Sie will unser Geld nicht. Wir sind eingeladen.«
    »Vielen Dank.«
    »Sie dankt dir.«
    »Wofür?«
    »Dass sie dir eine Freude machen durfte.«
    Ich war zu erschöpft, um dieser Logik folgen zu können, nickte nur freundlich und erhob mich.
    »Sollen wir eine Pferdekutsche zum Hotel nehmen? Du bist bestimmt müde nach diesen Strapazen.«
    »Das ist nicht nötig, danke. Den kurzen Weg schaffe ich noch.«
    U Ba hustete mehrmals. Ein trockener, stechender Husten.
    »Bist du erkältet?«
    Er schüttelte den Kopf, nahm wieder meinen Arm, und wir schlenderten die Hauptstraße Richtung Hotel entlang. Ich hatte das Gefühl, dass mein Bruder mich, sobald ich schneller
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher