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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören
Autoren: J Sendker
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verschwanden im Haus, andere kehrten zurück in den Hof. Wo war U Ba?
    Ich schob mich durch die Menge und folgte dem Strom die Veranda hinauf.
    Das Haus bestand aus einem einzigen großen Raum. Die Fensterläden waren geschlossen. Es gab keine Möbel außer einem Bett. Dutzende von Kerzen waren über die Holzbretter verteilt und tauchten das Zimmer in ein warmes, gelbrötliches Licht. Auf einem Brett unter dem Dach stand eine große Buddhafigur. Blumen und Teller mit Früchten, Teeblättern, Cheroots und Reis bedeckten das Bett, das über und über mit Blattgold überzogen war, die Pfosten, das Fuß- und Kopfende, selbst die Bretter, die die Matratze einst hielten. Es glänzte im flackernden Schein der Kerzen. Vasen voller Räucherstäbchen und weitere Schalen und Schüsseln mit Opfergaben standen auf dem Fußboden. Es roch nach Weihrauch und Cheroots. Die Frauen tauschten frisches Obst gegen altes aus, nahmen verwelkte Blumen vom Bett und legten frische Sträuße dazu.
    Sie verbeugten sich vor dem Buddha und traten ans Bett, schlossen die Augen, hoben die Hände und strichen dann mit den Fingern über das Holz. Als könnten sie damit den Virus wecken. Den Virus, der in uns allen steckt.
    »Der Tod«, hatte U Ba gesagt, »ist nicht das Ende des Lebens. Er ist ein Teil davon.« Keinem der Besucher hätte er erklären müssen, was er meinte.
    Ich verharrte in einer Ecke und rührte mich nicht. Draußen war es dunkel geworden. Durch einen Spalt in der Wand konnte ich sehen, dass der ganze Hof von Kerzen erleuchtet war.
    Plötzlich stand U Ba neben mir. Er lächelte, als wäre nichts geschehen. Ich wollte etwas sagen, aber er hielt seinen Zeigefinger vor die Lippen und deutete mir zu schweigen.
    Ich blickte in die Kerzenflammen und auf das Bett, auf die Blumen und die Menschen. Ich war am Ziel. Ich hatte gefunden, wonach ich gesucht hatte. Ich wollte es festhalten, mich daran klammern und ahnte gleichzeitig, dass es ein Geschenk war, das ich nicht einpacken und mitnehmen konnte. Ein Geschenk, das nicht für mich allein bestimmt war. Das uns allen gehörte oder niemandem. Das mir Kraft geben würde bis ans Ende meines Lebens.
    Das Vermächtnis von meinem Vater und Mi Mi.
    Die Gabe der Liebe.

DANKSAGUNG
    Ich möchte mich bei meinen Freunden in Birma bedanken, vor allem bei Winston und Tomy, für ihre großzügige und unermüdliche Hilfe bei den Recherchen in Kalaw und Rangun.
    Besonderen Dank schulde ich meiner Frau Anna. Ohne ihren Rat, ihre Geduld und ihre Liebe gäbe es dieses Buch nicht.

LESEPROBE
    Lesen Sie weiter in:
    JAN-PHILIPP SENDKER
    Herzenstimmen

D er Tag, an dem meine Welt aus den Fugen geriet, begann unter einem tiefblauen, wolkenlosen Himmel. Es war ein klirrend kalter Freitag in der Woche vor Thanksgiving. Ich habe mich seitdem oft gefragt, ob ich es hätte kommen sehen können. Weshalb hatte ich nichts bemerkt? Wie konnte sich ein so folgenschweres Ereignis in meinem Leben anbahnen, ohne dass ich auch nur eine Ahnung davon gehabt hatte? Ausgerechnet ich, die Überraschungen so verabscheute. Die sich auf alles, jede Verhandlung, jede Reise, selbst einen Ausflug am Wochenende oder ein gemeinsames Kochen mit Bekannten so gewissenhaft wie möglich vorbereitete. Ich überließ nichts gern dem Zufall. Ich ertrug das Unerwartete nur schwer. Es zählte nicht zu meinen Freunden.
    Amy war sich sicher, es habe erste Symptome gegeben. Es gebe sie immer. Wir seien nur so sehr in unseren Alltag vertieft, Gefangene unserer Routinen, dass wir den Blick für sie verloren haben.
    Für die kleinen Geschichten, die uns Großes erzählen.
    Sie war überzeugt, dass jeder Mensch sich selbst das größte Rätsel ist und unsere lebenslange Aufgabe darin besteht, der Lösung dieses Rätsels näher zu kommen. Lösen, behauptete sie, würden wir es nie. Aber auf den Weg dorthin müssten wir uns machen. Ganz gleich, wie lang er ist oder wohin er uns führt.
    Ich war mir nicht sicher. Amy und ich waren oft unterschiedlicher Meinung. Das sollte nicht heißen, dass ich ihr in diesem Fall nicht bis zu einem gewissen Grad recht gab. Vermutlich hatte es in den Monaten zuvor immer wieder Momente gegeben, die mich hätten warnen können. Aber wie viel Zeit können wir tagein und tagaus damit verbringen, in uns hineinzuhorchen, um mögliche Signale und Zeichen für irgendetwas zu entschlüsseln?
    Der Brief lag in der Mitte meines Schreibtisches. Es war ein leicht zerknitterter, hellblauer Luftpostumschlag, wie ihn heute kaum noch jemand
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