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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören
Autoren: J Sendker
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benutzt. Ich erkannte seine Handschrift sofort. Niemand schrieb mit solcher Hingabe. Nur er nahm sich die Zeit, aus Briefen kleine Kunstwerke zu machen. Die geschwungenen Linien hatte er mit schwarzer Tinte so fein säuberlich gezogen, als handle es sich um eine Kalligrafie. Jeder Buchstabe ein Geschenk. Zwei Seiten eng beschrieben, jeder Satz, jede Zeile mit einer Sorgfalt und Leidenschaft aufs Papier gebracht, wie es nur Menschen vermögen, für die das Schreiben eine Gabe ist, die man nicht hoch genug achten kann.
    Auf dem Kuvert klebte eine amerikanische Briefmarke. Er musste es einem Touristen mitgegeben haben, das war der schnellste und sicherste Weg. Ich schaute auf die Uhr. In zwei Minuten sollte die nächste Konferenz beginnen, nicht genug Zeit, um den ganzen Brief zu lesen, aber meine Neugier war zu groß. Ich öffnete den Umschlag und überflog in aller Eile die ersten Zeilen.
    Kalaw, der neunte November,
im Jahre zweitausendundsechs
    »Meine liebe kleine Schwester,
    ich hoffe, … erreicht Dich … guter Gesundheit. Bitte … Schweigen, das letzte Mal … ein paar Zeilen …?
    Eine Ewigkeit … erkrankt … bald sterben … ein Kommen und Gehen … das Leben … wie schnell sich Deine Welt dreht.
    Gestern … etwas Sonderbares … Eine Frau … tot zusammengebrochen. … um Vergebung gebeten. Tränen … groß wie Erdnüsse …«
    Ein kräftiges Klopfen holte mich zurück. Mulligan stand in der Tür. Sein wuchtiger, durchtrainierter Körper füllte fast den ganzen Rahmen aus. Ich wollte ihn um einen Augenblick Geduld bitten. Ein Brief meines Bruders aus Burma. Ein kleines Kunstwerk, das … Er lächelte, und bevor ich ein Wort sagen konnte, tippte er mit dem Finger auf seine große Armbanduhr. Ich nickte. Mulligan war einer der Partner von Simon & Koons, unser bester Anwalt, aber von Tränen, groß wie Erdnüsse, verstand er nichts. Von Buchstaben als Geschenk auch nicht. Seine Handschrift war unleserlich.
    Die anderen Kollegen warteten bereits. Es roch nach frischem Kaffee, Marc steckte sich den letzten Bissen eines Muffins in den Mund und grinste mir zu. Wir hatten eine Wette laufen, ob es ihm gelingen würde, bis Weihnachten fünf Kilo abzunehmen. Es wurde ruhiger, als wir uns setzten. In der kommenden Woche würden wir eine Klageschrift für unseren wichtigsten Mandanten einreichen müssen. Eine komplizierte Geschichte. Copyright-Verletzungen, Raubkopien aus Amerika und China, mutmaßliche Wirtschaftsspionage. Internationales Wirtschaftsrecht. Schadenssumme mindestens hundert Millionen Dollar. Die Zeit war knapp.
    Ich dachte an meinen Bruder in Burma. Er war mir plötzlich so gegenwärtig, als hätte er mir nicht einen Brief geschrieben, sondern wäre persönlich gekommen. Ich dachte an unsere erste Begegnung in dem heruntergekommenen Teehaus in Kalaw. Wie er mich angestarrt hatte, plötzlich aufgestanden und auf mich zugekommen war. In seinem vergilbten weißen Oberhemd, seinem verwaschenen Longy, den ausgeleierten Gummisandalen. Mein Halbbruder, von dem ich nichts gewusst, nicht einmal etwas geahnt hatte. Für einen verarmten Alten hatte ich ihn gehalten, der mich anbetteln wollte. Ich erinnerte mich, wie er sich zu mir setzte, um mir eine Frage zu stellen. »Glauben Sie an die Liebe, Julia?« Noch heute habe ich den Klang seiner Worte im Ohr. Als wäre die Zeit für diese Frage stehen geblieben. Ich hatte laut lachen müssen – und er hatte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen.
    Zehn Jahre waren seither vergangen. Zehn Jahre, in denen ich mir immer wieder fest vorgenommen hatte zurückzukehren, das Grab meines Vaters zu besuchen, Zeit mit U Ba zu verbringen. Ich hatte die Reise von einem Jahr auf das andere verschoben. Zweimal hatte ich Flüge reserviert und im letzten Moment wieder storniert, weil etwas Wichtigeres dazwischengekommen war. Etwas so Wichtiges, dass ich heute nicht einmal mehr sagen konnte, was es gewesen war. Irgendwann hatte der Alltag die Intensität der Erinnerungen verblassen lassen, der Wunsch verlor seine Dringlichkeit und wurde zu einem vagen Vorhaben in einer unbestimmten Zukunft.
    Ich fragte mich, warum ich es in all den Jahren nicht geschafft hatte, ihn wiederzusehen, obgleich ich bei meiner Abreise uns beiden versprochen hatte, in wenigen Monaten zurückzukehren. Wie hatte er, dem ich so viel verdankte, wieder aus meinem Leben entschwinden können? Warum schieben wir das uns wirklich Wichtige so oft auf? Ich hatte darauf keine Antwort.
    Während Mulligan etwas vom
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