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Herz im Spiel

Herz im Spiel

Titel: Herz im Spiel
Autoren: Sally Cheney
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wollen?“
    Aber das Gericht hatte Mr Carstairs daran erinnert, dass die Justiz, da die junge Dame unter staatlicher Vormundschaft stand, über sie und ihr bescheidenes Erbe verfügen konnte. Carstairs hätte sich vielleicht weiter gewehrt, aber der Richter erklärte sich bereit, ihm als Vormund aus dem Erbe des Mädchens eine Jahresrente auszusetzen.
    Mr Carstairs bestritt seinen Lebensunterhalt durch verschiedene Tätigkeiten, von denen einige, wenn auch nicht alle, legal waren, und da er als Geschäftsmann ebenso wenig gewitzt war wie als Kartenspieler, hatte er gegen zusätzliche Einkünfte nichts einzuwenden. Das Entgelt, das der Richter ihm aussetzte, war ihm damals also ganz gelegen gekommen.
    Marianne Trenton, die noch vor Kurzem ein Heim und eine liebevolle Familie besessen hatte, musste nicht nur mit ihrer Trauer fertig werden, sondern fand sich auch noch mit einem Mal als Mündel eines Mannes wieder, den sie nicht kannte und binnen Kurzem verabscheute.
    Als Marianne endlich hörte, wie unten ein Schlüssel im Türschloss herumgedreht wurde, sprang sie erschrocken auf.
    Ängstlich lauschte sie auf die Schritte ihres Onkels, der im Haus umherging und seinen Überrock an den Garderobenständer neben der Vordertür hängte. An dem Tisch in der Halle blieb er stehen, um die Post durchzusehen. Sie dachte, er würde vielleicht in den Salon gehen, um die Zeitung zu lesen, aber nach einer kurzen Stille, in der er, wie sie sich vorstellte, die Schlagzeilen überflog, näherten seine Schritte sich der Treppe.
    Die schweren Stiefeltritte klangen, als stammten sie von einem kräftigen Mann, aber Mr Carstairs war nicht muskulös, sondern hager und schmächtig. Seine Schultern waren schmal, und sein Gesicht mit der spitzen Nase und den dicht zusammenstehenden Augen wirkte verhärmt.
    Marianne erstarrte. Wenn heute Abend alles gut verlaufen war, würde Onkel Horace weitergehen, den Flur entlang und in sein eigenes Zimmer. Dann könnte sie sich endlich entkleiden und ins Bett schlüpfen. Aber wenn er verloren hatte, würde er die Tür aufstoßen und über sie herfallen, ohne dass sie sich wehren konnte. Das Ausmaß der Misshandlungen, die sie würde erdulden müssen – brutale Schläge – hing stets von der Höhe seiner Verluste ab.
    Seine Schritte näherten sich der Tür. Weit riss sie die grünen Augen auf, ihr Atem wurde flach, und jetzt hielt sie ihn an. „Na los, nur zu“, flüsterte sie, als er vor ihrer Tür stehen blieb. Voller Angst wartete sie darauf, dass er mit dem Stiefel gegen das dünne Holz trat, das sich zwischen ihnen befand.
    Stattdessen klopfte es leise an ihrer Tür.
    Verblüfft stieß sie den angehaltenen Atem aus. „Herein“, sagte sie.
    Langsam öffnete sich die Tür.
    „Du bist noch auf“, begann Onkel Horace.
    „So ist es“, antwortete sie.
    „Konntest du nicht schlafen?“

    „Nein, ich habe gewartet …“ Sie verstummte.
    „Gewartet? Auf mich? Ich bin gerührt, Marianne.“
    Sie schwieg.
    „Ich habe noch einmal über unsere Lage nachgedacht“, fuhr er fort. „Du weißt, dass ich nicht unbedingt geeignet bin, ein junges Mädchen großzuziehen, und ich vermute, dass du hier nicht glücklich gewesen bist. Zu oft warst du allein, ohne eine Möglichkeit, unter Leute zu kommen. Du bist in einem Alter, in dem du andere Menschen kennenlernen solltest.“
    „Also, ich …“
    Carstairs unterbrach sie. „Vielleicht ist es Zeit, dass wir uns nach einer neuen Stelle für dich umsehen. Etwas mit einer besseren Perspektive.“ Er hatte sich halb abgewandt und beiläufig gesprochen, als wäre ihm all das eben erst eingefallen, aber jetzt betrachtete er sie aufmerksam von der Seite und beobachtete ihre Miene.
    „Eine neue Stelle? Das hört sich an, als sollte ich mich nach einer Arbeit umsehen. Meinst du das, Onkel Horace?“
    „Nein, nein. Ich habe mich falsch ausgedrückt. Aber eine andere Umgebung, einen größeren Bekanntenkreis, das schlage ich dir vor.“
    „Soll ich jemand besuchen? Vielleicht eine meiner alten Freundinnen?“, fragte sie.
    „Das auch wieder nicht“, erwiderte Carstairs ausweichend.
    „Was dann?“
    „Es ist keine deiner alten Freundinnen, sondern ein mir bekannter Gentleman. Du wirst Ende der Woche abreisen.“
    „Abreisen?“
    „Am Freitagmorgen wirst du mit einer Kutsche abgeholt. Bis dahin musst du reisefertig sein.“
    „Eine Kutsche? Und wohin bringt die mich?“, fragte Marianne, die sich die größte Mühe gab, diesen Furcht einflößenden Mann, der
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