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Herz im Spiel

Herz im Spiel

Titel: Herz im Spiel
Autoren: Sally Cheney
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dem Nichts aufzutauchen schien.
    „Sehr wohl, Mrs River. Wenn Sie mir folgen würden, Miss?“, bat die Zofe sie.
    Alice führte sie durch die Eingangshalle, die Treppe hinauf und die Galerie entlang. „Das ist Mr Desmonds Suite“, sagte sie und räusperte sich. „Und dies hier …“ Sie wies auf die nächste Tür, die, wie Mr Desmonds Zimmer, auf der von den Eingangstüren im Erdgeschoss abgewandten Seite lag. „… sind Ihre Räume.“
    Räume?
    Tatsächlich war die Zimmerflucht, die Alice ihr zeigte, fast so groß wie das Häuschen, in dem sie aufgewachsen war und zusammen mit ihren Eltern bequem Platz gehabt hatte.
    „Gehört das alles mir?“, flüsterte Marianne. „Soll ich hier wohnen – allein, meine ich?“
    „Sicherlich, Miss. Das heißt, außer Sie laden … ich meine, solange Sie nicht … jemand anders hereinbitten. Ich wollte damit nicht andeuten …“ Das Hausmädchen, das kaum älter als Marianne war, stammelte, errötete tief und verstummte schließlich völlig.
    Marianne war so überwältigt von der Weitläufigkeit ihrer Zimmer, dass ihr die Verwirrung der Zofe kaum auffiel. Alice knickste tief und ließ sie daraufhin allein. Während sie die Tür schloss, schüttelte sie leicht den Kopf. Diese junge Frau war nicht die Art von Person, mit der sie nach den gedämpften Gesprächen zwischen Mrs River und Mrs Rawlins unten in der Küche gerechnet hätte.
    In ihrer herrlichen Suite wusch Marianne sich das Gesicht in einer Porzellanschüssel mit Wasser und trocknete sich mit einem der flauschigen Handtücher, die in ihrem Badezimmerbereitlagen, ab. Anschließend ordnete sie sich das Haar mit einer Schildpattbürste, Teil eines eleganten Sets. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu, dann setzte sie eine für ein bedürftiges Waisenkind passende Miene auf. Bevor sie allerdings die Möglichkeit hatte, ihren Auftritt einzuüben, klopfte jemand an ihre Tür.
    „Herein“, rief sie.
    Alice schlüpfte ins Zimmer. „Er ist da, Miss. Mrs River hat mich gleich nach oben geschickt, um Sie zu holen. Mr Desmond hat es nicht gern, wenn man ihn warten lässt, und außerdem sagte Mrs River, Sie wollten ihn gern sehen.“
    „Mr Desmond? Ja, natürlich“, sagte Marianne, legte die Bürste hin, strich ihr Kleid glatt und überprüfte ein letztes Mal ihr Spiegelbild. Endlich würde sie den liebenswürdigen alten Herrn kennenlernen und Gelegenheit haben, ihm für seine uneigennützige Güte zu danken.

2. KAPITEL
    Mr Peter Desmond stand vor einem der hohen Fenster, blickte in die herrliche, verwilderte Landschaft hinaus und hielt eine Teetasse mit Unterteller in der Hand. Das Nebeneinander von Wildnis und Zivilisation spiegelte sich auf eigentümliche Weise an ihm selbst wider.
    Desmond trug einen eleganten maßgeschneiderten Anzug aus bestem Stoff. Hose und Jackett waren dunkelblau und die frisch gestärkte weiße Krawatte sowie das makellose Hemd verrieten ebenso seine hohe gesellschaftliche Stellung wie die zarte Teetasse aus edlem chinesischem Porzellan, die er in den Händen hielt.
    Aber als er sich umwandte und Marianne ansah, wirkten sein Gesicht und seine Miene ebenso ungezähmt und atemberaubend wie das Panorama vor dem Fenster.
    Einen Moment lang betrachtete er sie schweigend. Von wechselhaftem Licht beschienen, stand sie an einer Stelle, wo die Sonne durch einen grob gewirkten Spitzenvorhang fiel. Ihr Reisekostüm war in einem hellbraunen Farbton gehalten, um den Staub, der am Rock oder an der Jacke haften mochte, zu kaschieren, und mit ihrem dunkelblonden Haar und den großen grünen Augen erinnerte sie ihn an eine Dschungelkatze, die vorsichtig aus dem Unterholz trat und argwöhnisch die vor ihr liegende Landschaft in Augenschein nahm. Die Szene, die durch das Fenster hinter ihr zu sehen war und an einen tropischen Urwald erinnerte, vervollständigte das Bild.
    Ihr Busen hob und senkte sich unter dem Rhythmus rascher Atemzüge. Sie beobachtete ihn nervös. Beinahe erweckte sie den Anschein, als wollte sie ihn angreifen oder aber fliehen. Wofür sie sich entscheiden mochte, hing wohl von seinen nächsten Schritten ab. Die Vorstellung nötigte ihm ein kaum merkliches Lächeln ab.
    Marianne bedurfte nicht des Spiels von Licht und Schatten, um den ersten Eindruck zu verstärken, den dieser Mann auf sie machte – den eines wilden Tieres, das zum Sprung ansetzte. Dies war entschieden nicht der freundliche ältere Herr mit dem weißen Haar und den zittrigen Händen, den sie sich vorgestellt hatte. Mr Desmond
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