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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge
Autoren: Kai Meyer
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Gardeführers, gerade unterhalb des Adamsapfels, verlief eine scheußliche Narbe. Gahmuret hatte Geschichten über diesen Mann gehört, schreckliche Gerüchte. Er war bereits tot gewesen, hieß es. Nun tötete er, um weiterzuleben, sagte man.
    Gahmuret fixierte die Augenschlitze. »Wenn ihr angreift, stirbst du zuerst«, knurrte er dem Mann entgegen. »Ganz gleich, was danach mit mir geschieht – du wirst sterben!« Das war eine alte List beim Kampf gegen eine Übermacht: Such dir einen aus und bedrohe ihn von Angesicht zu Angesicht. Nur ihn allein. Wenn du Glück hast, großes Glück, wird er unsicher und hält die Übrigen zurück.
    »Tötet ihn!«, befahl der Bischof.
    »Dich fällt mein Schwert«, sagte Gahmuret zum Gardeführer, »und euch andere mein Wissen.«
    »Tötet ihn – oder ihr werdet alle sterben!«, keifte Oldrich.
    »Ihr werdet sterben, wenn ihr mit anhört, was ich zu sagen habe. Und ich werde es jetzt sagen!«
    Der Bischof stieß ein zorniges Brüllen aus. Falls es Worte waren, trug der Flammenwind sie davon. Der Gardeführer riss das Schwert nach oben.
    Ein Raunen ging durch die Reihe der Krieger. Ihre Blicke geisterten an Gahmuret vorüber und entdeckten etwas in seinem Rücken, drüben am Charisius-Tor. Wildes Geschrei erhob sich dort. Eine Schar von Männern strömte durch den Steinbogen, flutete von außen herein in die Stadt.
    »Graf Gahmuret!«, brüllte eine vertraute Stimme. »Ihr habt uns gerufen, und wir haben Euch draußen im Dunkel erwartet. Nun sehen wir, was Euch aufgehalten hat.«
    Gahmurets Narbenlächeln wurde breiter. Sie waren tatsächlich gekommen. Weit mehr als ein Viertel, sogar mehr als die Hälfte seiner Männer. Treue, brave, kühne Seelen!
    »Bringt meine Söhne in Sicherheit!«, rief er über die Schulter.
    Bischof Oldrich verengte die Augen, so als könnte er nicht erkennen, was da vom Ende der Straße näher kam. Vielleicht wollte er es nur nicht glauben.
    Der Gardeführer mit dem vernarbten Kehlenschnitt streckte die Klinge in Gahmurets Richtung aus, bis sich die beiden Schwertspitzen berührten. Ein stählernes, tödliches Versprechen.
    Irgendwo stürzte ein brennender Dachstuhl ein. Flammen krallten sich in den Himmel.
    Eine neue Silhouette trat plötzlich vor wallende Funkenwolken.
    Das Weinen der Kinder schwoll an – und verstummte.

Erstes Buch
     
    M ENSCH UND G OTT
     
    »D IE L ÜGE IST DER GEMEINSAME C ODE ZWISCHEN M ENSCH UND G OTT , DIE SICH VON A NGESICHT ZU A NGESICHT GEGENÜBERSTEHEN UND SICH AN DER G ESCHICKLICHKEIT IN EINER BEIDEN BEKANNTEN KUNST ERKENNEN , DER K UNST DER L ÜGE .«
     
    M ARIA B ETTETINI , P HILOSOPHIN
     

Lügengeist
     
    Burg Lerch
    Anno Domini 1210
    Sechs Jahre nach dem Untergang Konstantinopels
     
    Hoch über dem Burghof verharrte Saga in der Luft. Sie balancierte mit nackten Füßen auf einem Seil, das sich vom Wachturm auf der Ostmauer hinüber zu einem Zinnenkranz im Westen spannte. Dreißig Schritt lagen zwischen den beiden Gebäuden. Dreißig Schritt Leere und ein Strick, nicht breiter als ihr Zeigefinger.
    In der Tiefe ging ein Raunen durch die Menschenmenge. Alle Augen waren auf das Mädchen gerichtet, das in schwindelerregender Höhe sein Leben aufs Spiel setzte. Kinderhände krallten sich in das Leinenzeug ihrer Mütter. Männer, die den Markttag damit verbracht hatten, lautstark ihre Ziegen, Stoffe und Früchte anzupreisen, pressten gespannt die Lippen aufeinander. Ein lallender Betrunkener bekam von einem zweiten Zecher einen Schlag versetzt, der ihn stumm zu Boden schickte.
    Dann verebbte auch das letzte Flüstern. Niemand rührte sich.
    Saga ertastete mit den Zehen die Markierung in der Mitte des Seils. Ihre Fußsohlen waren angespannt und leicht gekrümmt. Sie hatte beide Arme zur Seite ausgestreckt und hielt in jeder Hand eine lodernde Fackel. Vom Boden aus ließ die Nähe der Flammen ihren Mut noch größer erscheinen; tatsächlich aber hielt sie mit den Fackeln ihr Gleichgewicht.
    Noch zwei weitere Schritte, bis ihr Zwillingsbruder Faun oben auf dem Westturm von ihrem Vater das vereinbarte Zeichen erhielt. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, aber sie wusste, dass Faun dort hinten auf das Trommelsignal wartete. Er stand breitbeinig auf den Zinnen, unweit des Abgrunds. Auch er hielt eine Fackel, am ausgestreckten Arm emporgereckt in den Abendhimmel.
    Bewegungen unten im Burghof störten Sagas Konzentration. Sie ließ ihren rechten Fuß reglos über dem Seil schweben, um durch die Ablenkung nur ja keinen Fehler
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