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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge
Autoren: Kai Meyer
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P ROLOG
    IN F LAMMEN
     
    Anno Domini 1204
    Sechs Jahre vor dem Kreuzzug der Jungfrauen
     
    Die Nacht war aus Asche, als der Maskierte einen Weg durch das brennende Konstantinopel suchte. Die beiden Kinder an seinen Händen waren verstummt und blickten mit aufgerissenen Augen in die Zerstörung ringsum; sie weinten lautlos und mit starren Gesichtern.
    Es roch nach Ruß und geöffneten Leibern, nach vergossenem Wein und dem Angstschweiß der Geschändeten. Wo der Maskierte die Pulks aus betrunkenen Eroberern umgehen konnte, tat er es so früh wie möglich. Meist hörte er die Schreie der Opfer, bevor er jemanden sah. Dann zog er seine beiden Söhne in die ausgebrannten Ruinen der Häuser, schlich durch Gassen, in denen sich der Schutt geborstener Fassaden türmte, suchte den Schutz der lichtlosen Keller.
    Ihre Verfolger blieben unsichtbar. Doch der Maskierte spürte ihre Nähe.
    Der kleinere der beiden Jungen stolperte – nicht zum ersten Mal. Der Mann fluchte leise, zerrte ihn zurück auf die Füße und wünschte insgeheim, er könnte sanfter sein, liebevoller, wie es sich für einen Vater gehörte.
    Es war der dritte Tag der Plünderung, und noch immer wehten Feuer in lodernden Flammenstürmen über Dächer und Kuppeln Konstantinopels hinweg, schlängelten sich in zerfransten Glutspiralen an Türmen empor und fauchten hungrig durch die Gassen und einstigen Prachtstraßen. Dort, wo es für die Flammen am wenigsten zu holen gab, wüteten sie mit der größten Beharrlichkeit: in den Elendsquartieren am Stadtrand und am Ufer des Lycus, in den schäbigen Vergnügungsvierteln hinter dem Prospherionhafen und den Anlegestellen an der Südküste.
    Nur in den Palästen waren alle Brände rasch gelöscht worden. Hier hatten die Eroberer eigenhändig jede Glut erstickt, damit ja kein Stück dem Feuerorkan zum Opfer fiel: Die Diener der Kirche Roms achteten sorgsam auf ihre Beute.
    Der Maskierte war auf der Seite der Sieger gewesen, als der finale Angriff auf die Stadt begann. Vor über einer Woche, am sechsten April, war draußen am Goldenen Hörn zur letzten Schlacht geblasen worden. Die Schiffe der Verteidiger hatten verzweifelt versucht, die Kreuzfahrer auf ihren venezianischen Galeeren von den Stadtmauern fern zu halten. Aber es hatte nicht lange gedauert, ehe die ersten Ritter aus dem Westen an Land gegangen waren. Das Viertel von Blachernae war zuerst gefallen, seine Stadtmauer geborsten, die Männer auf den Zinnen niedergemacht. Während der byzantinische Kaiser seinem Volk den Rücken kehrte und feige durchs Goldene Tor nach Thrazien floh, fielen seine Krieger unter dem Ansturm der Feinde, zusammengetrieben und massakriert wie Vieh. Die ältesten unter den Eroberern waren längst übereingekommen, dass es nie zuvor eine Plünderung wie diese gegeben hatte. Nirgends sonst waren die Kirchen vergoldet bis unters Dachgebälk, nirgends die Paläste bis zum Bersten gefüllt mit Reichtum. Konstantinopel war ihnen allen wie das Himmelreich erschienen. Doch die Hauptstadt von Byzanz, das Herz des östlichen Christentums, war gefallen. Das Paradies stand in Flammen. Und seine Einwohner waren tot, vertrieben, den Gelüsten ihrer Peiniger ausgeliefert.
    Der Maskierte zerrte die Kinder vorwärts. Der Junge weinte jetzt noch heftiger, verschluckte sich fast an seinem Schluchzen.
    »Er kann nicht mehr laufen«, sagte sein ältester Sohn, die ersten Worte seit einer Ewigkeit. »Du musst ihn tragen.«
    Der Maskierte nickte stumm. Er, der so viele Kämpfe geschlagen hatte, fühlte sich hilflos wie nie zuvor. Selbst auf das Naheliegende war er nicht gekommen. Er packte den Kleinen unter den Achseln und hob ihn auf seine Arme. »Halt dich gut fest. Hörst du?«
    Der Kleine schluchzte etwas. »Hast du verstanden? Gut festhalten!«
    So hetzten sie weiter, der Junge schwer und immer schwerer, den Kopf an die Schulter seines Vaters gepresst. Sein älterer Bruder, mit sechs Jahren selbst noch ein kleines Kind, stolperte neben ihnen her, mit kurzen Schritten, außer Atem, aber tapfer wie ein Erwachsener. Der Maskierte war maßlos stolz auf ihn. Er liebte beide Kinder, aber der Erstgeborene war ihm immer näher gewesen. Warum hätte er daraus ein Geheimnis machen sollen? Er hatte auch unter seinen Hunden Favoriten, die schnellen, die scharfen, all jene, die sich aufs Kämpfen verstanden.
    Nicht mehr weit bis zur Aelios-Zisterne. Er konnte ihren schwarz gezahnten Dachstuhl sehen, Teile der zerfallenen Außenmauer über den unterirdischen
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