Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
zu begehen. Es gab kein Netz dort unten, nichts, das sie auffangen würde, falls sie abstürzte.
    Aber Saga stürzte nie. Sie hatte dieses Kunststück schon viele Dutzend Mal vorgeführt, ohne auch nur einmal aus dem Gleichgewicht zu geraten.
    Jetzt aber irritierte sie der plötzliche Trubel im Hof. Als sie nach unten blickte, sah sie im Schein der Feuerbecken Eisen blitzen. Vier Burgwächter drängten sich vom Tor her durch die Menge. Die Menschen machten widerstrebend Platz. Starr verfolgte Saga den Weg der Bewaffneten zur Westseite des Hofes und verlor sie aus den Augen, als sie unter ihr hindurch waren; sie hätte sich auf dem Seil herumdrehen müssen, um ihnen hinterherzublicken. Trotzdem hörte sie das Murren der dicht gedrängten Menge, dann und wann die barschen Aufforderungen der Soldaten, unverzüglich zur Seite zu treten.
    Schließlich ließ das Lärmen nach. Stattdessen polterten gedämpfte Schritte im Inneren eines Gebäudes, immer dann ein wenig lauter, wenn die Soldaten auf ihrem Weg die Treppe hinauf eine der Schießscharten passierten. Sie waren jetzt im Westturm.
    Faun war der einzige Mensch dort oben.
    Saga schwankte leicht, die Sorge machte sie unvorsichtig. Sie fragte sich, was er diesmal angestellt hatte. Dabei lag es doch auf der Hand. Das, was er immer tat.
    Sie hätte ihrem Zwillingsbruder gern einen Blick über die Schulter zugeworfen, aber das hätte ihr Gleichgewicht noch stärker gestört. Ihr Herz schlug schneller als sonst. Ihre eingeübte Ruhe war auf einen Schlag wie fortgewischt.
    Warum gerade jetzt? Warum schon wieder? Konnte Faun nicht einmal die Finger von den Sachen anderer Leute lassen?
    Ihr rechter Fuß fand den Kontakt zum Seil. Ohne nachzudenken machte sie einen weiteren Schritt. Das war die vereinbarte Stelle, zwei Schritte nach der Hälfte des Weges. Unten im Burghof begann ihr Vater seine Trommel zu schlagen, erst leise, dann immer schneller und lauter. Die Zuschauer vergaßen die Störung durch die Soldaten, alle blickten wieder nach oben.
    Saga wusste ohne hinzusehen, was Faun gerade tat. Sobald der Trommelwirbel seinen Höhepunkt erreichte, senkte ihr Bruder seine Fackel und steckte das Seil hinter ihr in Brand. Bis zur Mitte war es mit einem Ölgemisch bestrichen, an dem sich die Flammen in Windeseile entlangfraßen, ohne sofort den Hanf zu verzehren. Saga blieb genug Zeit, die andere Seite zu erreichen, bevor der Strick verbrannte und unweigerlich in die Tiefe fiel.
    Hundertmal geprobt, fast ebenso oft vor Zuschauern aufgeführt. Sie und Faun waren perfekt aufeinander eingespielt. Sie teilten weit mehr als nur die Stunde ihrer Geburt: nahezu das gleiche Geschick als Artisten – er war der bessere Jongleur, sie kletterte flinker –, Fertigkeiten auf mehreren Musikinstrumenten, akzeptable Singstimmen. Allein aufs Stehlen verstand Faun sich besser. Er achtete darauf, nicht aus der Übung zu kommen.
    Erschrockene Schreie wurden laut, als Faun die Fackel in einem glühenden Bogen senkte und das Seil in Brand setzte. Saga wusste, was die Menschen von unten aus jetzt sahen: Hinter ihr schoss eine flammende Spur durch den Abendhimmel, wie ein letzter Strahl der untergehenden Sonne im Westen. Das Feuer wanderte schneller, als Saga sich vorantasten konnte, aber auch das gehörte zum einstudierten Teil der Vorführung. Auf halber Strecke endete das Öl, jenseits davon war das Seil mit Wasser getränkt. Hier verharrten die Flammen für eine Weile und kamen ihr nicht näher.
    Trotzdem blieben ihr nur wenige Augenblicke. Dann würde das verbrannte Seil reißen.
    Alles aussperren. Das Seil ansehen. Die Verteilung deines Gewichts spüren. Ganz ruhig weitergehen.
    Doch Saga zögerte – zum ersten Mal während all der Jahre, in denen sie mit ihrer Familie auf Burghöfen und Marktplätzen gastierte. In ihrem Rücken hörte sie das Klirren von eisernem Rüstzeug, dann grobe Stimmen. Ihr Vater schlug ununterbrochen die Trommel, darum konnte sie nicht verstehen, was hinter ihr gesprochen wurde. Nahmen die Bewaffneten Faun in Gewahrsam, weil er einmal mehr etwas an einem der Marktstände gestohlen hatte? Sie würden ihm hoffentlich nicht an Ort und Stelle etwas antun.
    Das Wissen um die Zeit, die ihr auf dem brennenden Seil noch blieb, war ihr längst in Fleisch und Blut übergegangen. Gerade genug für einen Blick zurück.
    Denk an dein Gleichgewicht! Mach jetzt nur keinen Fehler!
    Sie blieb auf der Stelle stehen. Drehte ihre Hüfte, dann die Schulter, zuletzt ihren Kopf. Aus dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher