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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge
Autoren: Kai Meyer
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Wassergewölben. Feuer wüteten im Inneren, er sah ihren Schein auf schwarzen Qualmballen über dem nördlichen Viertel. Von dort aus war es nur noch ein Steinwurf bis zum Charisius-Tor in der Stadtmauer. Dahinter lag im Norden und Osten offenes Land. Freiheit und Rettung, dafür betete er.
    Bevor er gezwungen gewesen war, mit den Kindern die Flucht zu ergreifen, hatte er Boten an seine Getreuen ausgesandt. Sie lungerten auf dem weiten Platz vor der Hagia Sophia, auf den Foren des Konstantin und Theodosius, im Schatten des Valens-Aquädukts und auf der Rennbahn nahe des Bucoleon-Palastes, wo längst keine Pferde und Hunde mehr hechelten, sondern aus allen Richtungen Frauen zusammengetrieben wurden. Dem Geschäft des Tötens war das Geschäft des Raubens gefolgt, und es waren keine Stunden vergangen, ehe die Ersten das Geschäft des Fleisches entdeckt hatten. Nun wurden Kinder und Mädchen aus den Ruinen gezerrt, aus Verschlagen in halb verschütteten Kellern und Fluchtkammern hinter angekohlten Mauern, um den unersättlichen Appetit der Eroberer zu stillen.
    Der Junge regte sich in seinen Armen. Der Maskierte umschloss den kleinen Körper fester.
    Wenn nur ein Viertel seiner Getreuen dem Aufruf folgten, konnte er hoffen. Vielleicht sogar einige mehr, falls sie genug Kraft aufbrachten, um den Weg durch die Stadt zum Tor und zur Straße nach Adrianopel zu finden.
    Lasst alles zurück, besagte seine Botschaft an sie. Sammelt euch und folgt mir. Gehorcht nur mir, nicht den anderen. Ich bin der, für den ihr kämpft. Und kämpft für meine Söhne!
    Er verlangte viel von ihnen, das wusste er. Keiner von ihnen kannte die wahren Gründe für seine Flucht. Sie ahnten nichts von der geheimen Zusammenkunft und dem Vertrag. Ausgehandelt in nur wenigen Tagen hatte das Dokument ausgelöscht, was Jahrhunderte lang gewachsen war.
    Er selbst hatte vorausgesehen, was geschehen würde. Den Angriff, den Untergang. Er hatte es zugelassen, wusste um seinen Teil der Schuld. Aber er hatte nicht den Geruch erahnen können, hatte sich nicht ausgemalt, wie es war, wenn Tausende von Kriegern über eine Stadt herfielen, mit der es nichts, rein gar nichts in ihrer Heimat aufnehmen konnte.
    Nun blieb ihm nur die Flucht. Und die verzweifelte Hoffnung, dass er das Tor erreichte, ehe die anderen ihn fanden.
    Der Maskierte bog mit den Kindern aus dem Gewirr der Gassen auf die Hauptstraße. Sie führte in gerader Linie vom Forum des Theodosius hinaus aus der Stadt. Der Vierjährige schluchzte noch immer an seiner Schulter, beinahe ein Röcheln, viel zu heiser für ein Kind. Vielleicht vom Rauch, vielleicht auch, weil er unter Schock stand und das Grauen keinen Unterschied kannte zwischen Alt und Jung. Linkisch strich der Mann ihm über den Rücken, doch er wusste, dass keine noch so zärtliche Geste den Schrecken mildern konnte.
    Sie sahen das Tor vor sich, ein mächtiger Klotz aus grauem Gestein, so wuchtig wie die meisten Bauten an diesem verschwenderischen Ort. Der Maskierte zögerte. Auf den Zinnen standen keine Wachen. Womöglich würde ihre Flucht leichter sein, als er erwartet hatte.
    Oder man hatte ihnen eine Falle gestellt.
    »Gahmuret von Lerch!«
    Die Stimme erklang hinter ihm. Sie hatten ihn gefunden. So kurz vor dem Ziel.
    »Seht nicht hin!«, flüsterte er seinen Söhnen zu und wusste doch, dass sie nicht gehorchen würden.
    Langsam, fast bedächtig setzte er den kleineren Jungen neben seinem Bruder ab. Dann zog er sein Langschwert und drehte sich um, schützte die Kinder so gut es ging mit seinem Körper.
    »Bischof Oldrich.« Er nickte dem älteren Mann in der Straßenmitte zu, als wäre dies ein Wiedersehen zwischen alten Freunden. Aber der Maskierte, Graf Gahmuret von Lerch, hatte keine Freunde mehr, nicht seit heute morgen, seit dem größten Vertrauensbruch von allen.
    Geblieben waren ihm nur seine Söhne.
    Bischof Oldrich von Prag trug keine seiner Insignien, die er sonst so selbstverliebt zur Schau stellte. Stattdessen war er zum Kampf gerüstet, in rußgeschwärztes Eisen von Kopf bis Fuß. Sein enger Helm ruhte auf einem schweren Kettenkollier. Die breiten Schulterprotektoren aus Stahl ließen ihn kräftiger erscheinen als er war; ein bodenlanger roter Umhang war mit einer Federkrause daran befestigt und beulte sich im rauchgeschwängerten Wind. Kleine Augen, so grau wie das Eisen seines Rüstzeugs, starrten unter dem Helm hervor, die verwüstete Straße entlang auf Gahmuret von Lerch und die beiden weinenden Kinder.
    Das gute
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