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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge
Autoren: Kai Meyer
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verlagert. Sagas jüngere Schwestern zeigten im Fackelschein einen Entfesselungstrick. »Danach gehst du dort hoch und tust deine Arbeit«, fuhr ihr Vater fort. »Die Leute warten auf dich, Saga.«
    Sie ließ ihn stehen und rannte los. Aber sie lief nicht zum Palas, in den die Burgwachen Faun verschleppt hatten, sondern hinüber zu einem der beiden Planwagen, in denen die Familie durch die Lande reiste.
    Die Leute warten auf dich, hatte ihr Vater gesagt. Gemeint hatte er nicht sie, sondern den Lügengeist. Die Seilnummer, die Entfesselungskünste, die Spaße – all das diente nur als Vorspiel für die wahre Attraktion des Abends.
    Saga hasste sich dafür, dass sie ihrem Vater gehorchte. Nach dem, was heute mit Faun geschehen war, noch mehr als sonst.
    Die Wagen standen unweit des Podests am Rand des Hofes. Ihre bunt bemalten Planen aus gefettetem Leinen dienten als Hintergrund der Bühne.
    Ihr Vater hatte lange gezögert, ehe er sich entschieden hatte, die Einladung der Gräfin zu einem Auftritt anzunehmen. Die Lage in der Grafschaft war angespannt, seit Violante von Lerch und ihr Mann Gahmuret sich während des Thronstreits auf die Seite Philipps von Schwaben gestellt hatten. Zwar war Philipp schließlich gekrönt worden – um dann aber, vor zwei Jahren, von einem seiner Verbündeten ermordet zu werden. Nun herrschte sein Erzrivale Kaiser Otto IV. über das Heilige Römische Reich, und die Mitläufer des Schwaben mussten um Leib und Leben fürchten.
    Die Grafschaft Lerch war Otto gewiss ein Dorn im Auge, und sich länger als nötig hier aufzuhalten mochte ein Fehler sein auch für Gaukler und Spielleute. Letztlich aber hatte Sagas Vater das ungewöhnliche Ersuchen der Gräfin zu sehr geschmeichelt. Spielleute wurden nur selten förmlich geladen; meist mussten sie dankbar sein, dass die Obrigkeit sie nicht verjagte, gerade in Zeiten wie diesen, so kurz nach dem Ende des Bürgerkrieges. Die Aussicht auf einen guten Verdienst war daher das beste aller Lockmittel. Sagas Vater hatte nicht widerstehen können.
    Aufgebracht und viel zu achtlos kramte Saga in ihrer Kiste. Schließlich fand sie ein sauberes Paar Beinlinge: zwei einzelne Hosenbeine, die unter dem Saum ihrer halblangen Tunika mit der Bruch, einer windelartigen Unterhose, verschnürt wurden. Wie die meisten Spielleute trug sie zweifarbige Kleidung, die linke Hälfte rot, die rechte grün. Auch die Beinlinge waren unterschiedlich gefärbt, passend zur jeweiligen Körperseite.
    Als sie das schmutzige Paar abgestreift hatte, entdeckte sie an der Öffnung des Planwagens zwei kichernde Jungen, die rotgesichtig auf ihre nackten Beine starrten. Sagas Körper war schlank und hellhäutig, vielleicht eine Spur zu muskulös.
    »Verschwindet!« Im Grunde war sie dankbar, dass da jemand war, auf den sie ihren Zorn entladen konnte. Noch lieber wäre ihr gewesen, die Kleinen hätten sich widersetzt; dann hätte sie ihnen eine Tracht Prügel verabreichen können.
    Gedanken an Faun stiegen in ihr auf, und sie schämte sich. Wäre die Lage umgekehrt gewesen, hätte Faun sicher alles getan, sie freizubekommen – oder wäre bei dem Versuch selbst im Verlies gelandet.
    Von Kind an war Faun immer derjenige mit den verrückten Ideen gewesen, Zwillinge hin oder her. Saga war ruhiger, nicht gerade in sich gekehrt, aber – so hoffte sie jedenfalls – ein wenig verantwortungsvoller als er. So war es meist sie, die für ihn gerade stehen musste. In einem aber hatte ihr Vater Unrecht: Faun war kein schlechter Dieb, nur ein nimmersatter. Meist stahl er Dinge, die der ganzen Familie zugute kamen. Ein Laib Brot, ein Lederschlauch mit gewürztem Wein für die kalten Abende auf der Straße, ein Mantel für eines der vier jüngeren Mädchen.
    Saga streifte die frischen Beinlinge über, verknotete sie unter der rot-grünen Tunika und sprang hinaus ins Freie. Das Entfesselungskunststück ihrer Schwestern war beendet, der verhaltene Applaus verklungen. Nun stand ihr Vater auf der Bühne und überbrückte mit ein paar derben Spaßen die Zeit bis zu Sagas Auftritt. Seltsam, dass er nur dort oben so vergnügt sein konnte. Im Kreis seiner Familie war er stets voller Sorge, manchmal aufbrausend. Saga hatte selten ein ehrliches Lachen auf seinen Zügen gesehen, erst recht seit dem Tod seiner beiden ältesten Söhne. Sie waren während des Bürgerkrieges ums Leben gekommen. Saga und Faun waren damals noch Kinder gewesen.
    »O-ho, seht, seht!«, deklamierte ihr Vater mit ausgreifender Geste in ihre
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