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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge
Autoren: Kai Meyer
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Wirklichkeit. Und je eitler der Geck, desto größer die Dummheit, zu der er sich verführen ließ.
    Sie warf ihrem Vater einen kurzen Blick zu. Er nickte aufmunternd. Niemals, nicht ein einziges Mal, hatte er Zweifel an der Richtigkeit ihres Tuns geäußert. Sogar Saga selbst hatte mit den Jahren vergessen, wie es gewesen war, als sie noch Skrupel gehabt hatte, andere Menschen der Lächerlichkeit preiszugeben. Längst gehörte es zu ihrem Tagwerk, so wie ein Bauer die Kühe molk und ein Schmied seinen Amboss schlug.
    Wäre nur nicht die Übelkeit gewesen. Der Ekel und die Abscheu vor der schrillen Geisterstimme in ihrem Inneren.
    Und heute, ganz besonders, die Angst um Faun.
    Mach weiter!, sagte der Blick ihres Vaters.
    Mehr! Zeig uns mehr!, schrien die aufgerissenen Augen der Zuschauer.
    Und Saga fuhr fort, den Händler zum Narren zu machen. Am Ende der Darbietung verkniff sie es sich nicht, seinen Dank für ihre weisen Worte entgegenzunehmen. Noch in vielen Wochen würde er glauben, an diesem Abend viel Gutes und Wunderbares erfahren zu haben. Es gab nichts, für das er sich schämen musste. Saga führte ihn von der Bühne, verbeugte sich ein letztes Mal und zog sich zurück.
    Hinter den Planwagen fiel sie auf die Knie und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Ihr Vater sah es, aber er kam nicht herüber.
    Als Faun die Bewusstlosigkeit abschüttelte, nahm er als Erstes den Gestank wahr. Es roch nach altem Schweiß, nach verdorbenen Essensresten und Rattendreck. Gerüche, die ihm nach siebzehn Jahren auf der Straße nicht fremd waren. Doch so geballt an einem Ort sorgten sie dafür, dass er nur mit Mühe das gestohlene Hühnerbein vom Nachmittag im Magen behielt.
    Seine erste Sorge galt Saga. Er hatte gesehen, wie sie schwankend auf dem brennenden Seil gestanden und zu ihm und den Soldaten herabgeblickt hatte. Als die Männer ihn durch die Tür des Palas gestoßen hatten, drohte sie gerade ihren Halt zu verlieren.
    Die Angst um sie lag wie ein Stein in seinen Eingeweiden. Er hatte das Gefühl, nicht aufstehen zu können, so schwerfällig und erschöpft fühlte er sich. Es war eine neue Erfahrung für ihn, dass Furcht einen ebenso auslaugte wie körperliche Anstrengung.
    Er hatte Tränen der Wut in den Augen, als er sich mühsam hochstemmte und zur Kerkertür schleppte. Die Burgwachen hatten ihn grob vor sich her gestoßen, aber nicht misshandelt – abgesehen von dem einen letzten Schlag hier im Verlies, der ihm die Sinne geraubt hatte. Dass nichts Schlimmeres geschehen war, machte ihm ein wenig Hoffnung; vielleicht würde er hier doch wieder herauskommen. Die Strafen für Diebstahl unterschieden sich überall im Reich. Er war nicht sicher, wie ein solches Vergehen in der Grafschaft Lerch gehandhabt wurde. Dennoch gehörte nicht viel dazu, sich die Konsequenzen auszumalen. Schweißausbrüche überkamen ihn, und er fragte sich, ob er ernstlich krank wurde. Krank vor Angst, vor allem aber aus Sorge um Saga.
    »Heh!«, rief er und schlug gegen die Kerkertür. »Ist da draußen jemand?« Er bezweifelte, dass man allein zu seinen Ehren einen Wächter abgestellt hatte. Für einen Moment hielt er den Atem an, lauschte auf eine Antwort, auf Schritte, vielleicht auf die Laute anderer Gefangener.
    Die einzige Antwort war das Schweigen der meterdicken Kerkermauern.
    Der Raum besaß nur eine kleine strohbestreute Bodenfläche. war aber mehr als dreimal so hoch wie Faun. Das einzige Licht fiel durch ein schmales Fenster, kurz unter der Decke. Draußen war es längst stockdunkel, daher musste vor der Öffnung dort oben eine Fackel brennen. Sie befand sich wahrscheinlich auf Bodenhöhe; der Kerker selbst musste demnach im Erdinneren liegen, drei Mannslängen tief in den Lerchberg getrieben. Faun erinnerte sich vage an eine steile Treppe, aber der größte Teil des Weges hierher verschwand in seiner Erinnerung hinter einem Schleier aus Kummer und den Nachwirkungen der Bewusstlosigkeit. Fast zu spät bemerkte er, dass sich jemand an der Tür zu schaffen machte. Er trat einen Schritt zurück und spannte seinen Körper. Die Vorstellung erbitterter Gegenwehr mochte einen Hauch von Heldenmut an diesen verzweifelten Ort bringen, aber Faun war sich seiner Chancen durchaus bewusst. Seine Arme und Beine waren muskulös und drahtig, und er lief schneller als jeder andere, den er kannte – aber er war keine Kämpfernatur. Er verstand sich aufs Bogenschießen, weil das zu einem seiner Kunststücke gehörte, genauso wie das Messerwerfen. Doch
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