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Herrin der Dunkelheit

Herrin der Dunkelheit

Titel: Herrin der Dunkelheit
Autoren: Fritz Leiber
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unwissenschaftliche Fantasie. Ob sie ihn Corona Heights genannt hatten wegen der Krone unregelmäßig geformter Felsen und Klippen auf seinem Gipfel? fragte er sich, während er sein Glas schärfer einstellte, bis sie deutlich und klar vor der Nebelwand zu erkennen waren.
    Ein ziemlich schmaler, fahlbrauner Felsen trennte sich von den anderen und winkte ihm zu. Verdammt, warum zuckte das Fernglas so mit seinem Herzschlag! Ein Mensch, der erwartete, ein klares, ruhiges Bild zu sehen, hatte noch nie ein Fernglas benutzt. Oder ob es eine Sehstörung war, ein mikroskopisch kleines Staubkorn in seiner Augenflüssigkeit? Nein, jetzt sah er es wieder! Genau wie er es zu erkennen geglaubt hatte, es war ein hochgewachsener Mensch in einem Regenmantel oder einer fahlbraunen Robe, der sich mit langsamen, tänzerisch wirkenden Gesten bewegte. Auf eine Entfernung von zwei Meilen konnte man keine menschliche Gestalt im Detail erkennen, selbst nicht durch ein Fernglas mit siebenfacher Vergrößerung; man erhielt nur einen generellen Eindruck von Bewegung und Haltung, eine Simplifizierung. Diese hagere Gestalt auf dem Gipfel von Corona Heights bewegte sich langsam im Kreis, die Arme über den Kopf erhoben, als ob sie tanze, doch das war alles, was man feststellen konnte.
    Als er das Fernglas sinken ließ, lächelte er amüsiert bei der Vorstellung, dass irgendein Hippie die Morgensonne mit einem rituellen Tanz auf dem Gipfel eines mitten in einer Großstadt gelegenen Hügels begrüßte, der gerade aus dem Nebel aufgetaucht war. Wahrscheinlich sang er auch dabei – irgendwelche unerträglichen, jammernden Ululationen, die so klangen wie die schrille Sirene, die er jetzt aus der Ferne hörte. Ein voll Drogen gepumpter Priester eines modernen Sonnengottes, der um ein zufällig geschaffenes, hochgelegenes Stonehenge herumhüpfte. Im ersten Augenblick hatte der Anblick ihn erschreckt, doch jetzt fand er ihn nur noch amüsant.
    Ein plötzlicher Windstoß fuhr herein. Sollte er das Fenster schließen? Nein, die Luft war wieder ruhig. Es war nur eine kleine Bö gewesen.
    Er stellte den Feldstecher auf seinen Schreibtisch, neben zwei dünne, alte Bücher. Das obere, in schmutziggraues Leinen gebunden, war aufgeschlagen. Die Titelseite zeigte in der altmodischen Schreibweise und dem gedankenlosen Layout, die es als ein Werk des vergangenen Jahrhunderts kennzeichneten – die schluderige Arbeit eines schluderigen Druckers, der keinerlei künstlerischen Ehrgeiz besaß – die Worte: Megapolisomancy: Eine neue Wissenschaft der Städte – von Thibaut de Castries.
    Das war wirklich ein seltsamer Zufall! Er fragte sich, ob ein drogenbesessener Priester in einer erdfarbenen Robe – ein tanzender Felsen, genau genommen! – von diesem Irren, der das Buch verfasst hatte, als eines der ›geheimen Vorkommnisse‹ erkannt worden wäre, die er in seinem um 1890 mit trockener Ernsthaftigkeit geschriebenen Buch für die Großstädte der Erde vorausgesagt hatte. Franz sagte sich, dass er dieses Buch genauer lesen sollte, und auch das andere.
    Aber jetzt, beschloss er plötzlich, mit einem Blick auf den Kaffeetisch, auf dem neben einem bereits frankierten und an seinen New Yorker Agenten adressierten, braunen Umschlag das Manuskript seiner letzten Romanfassung der Fernsehserie lag – Unheimlicher Untergrund, Folge 7: Die Türme des Verrats – fertig und versandbereit bis auf eine letzte, deskriptive Szene, die er noch recherchieren und anfügen wollte, würde er diese Arbeit zu Ende bringen; er hatte immer den Ehrgeiz, genau zu sein und seine Leser zu informieren, obwohl diese Serie billigste Unterhaltungslektüre war.
    Doch dann entschied er, dass er diesmal seine Romanfassung ohne diesen akribischen letzten Schliff abschicken und den heutigen Tag zu einem Feiertag erklären würde. Er wusste auch schon, was er mit ihm anfangen würde. Er hatte nur mäßige Gewissensbisse darüber, dass er seine Leser um ein winziges Detail betrog, zog sich an und machte eine Kanne Kaffee, die er zu Cal hinuntertragen wollte. Im Hinausgehen klemmte er sich die beiden alten Bücher unter den Arm (er wollte sie Cal zeigen) und steckte den Feldstecher in die Jackentasche – nur für den Fall, dass er in Versuchung geraten sollte, sich Corona Heights und seinen ausgeflippten Felsen-Gott noch einmal anzusehen.



 
3
     
    Im Korridor ging Franz an der schwarzen, drückerlosen Tür des früheren Besenschranks vorbei, und an einer kleineren, die durch ein Vorhängeschloss
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