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Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel
Autoren: Ramona Ziegler
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tiefer ein und kam nur äußerst mühsam vorwärts. Allmählich verließen mich die Kräfte. Vor lauter Anstrengung war ich schweißgebadet und konnte weder vor noch zurück. Die eiskalte Luft schmerzte bei jedem Atemzug in meiner Lunge. Jetzt war mir einfach alles so egal, dass ich mich in den Schnee fallen ließ und weinte.
    Mir war nicht klar, wie lange ich so dagelegen hatte, aber der kalte Schnee auf meinem Gesicht brachte mich wieder zur Besinnung. Ich war im Schnee gefangen. Bei jeder Anstrengung, mich aus der feuchten Masse zu befreien, sank ich noch tiefer ein. Aus eigener Kraft kam ich nicht mehr frei. Panik ergriff mich! Musste ich hier erfrieren? Sollte ich meine Kinder nie mehr wiedersehen? Warum hatte ich mich nur so weit von jedem Weg entfernt! Jetzt konnte mir keiner mehr helfen. In meiner letzten Verzweiflung rief ich um Hilfe, aber wer hätte mich hier oben in der Einsamkeit schon hören sollen?
    Plötzlich ergriff mich von hinten eine Hand am Anorak. Vor Schreck schlug ich wild um mich und stieß einen grellen Schrei aus. Da erkannte ich meinen Mann Franz, der mich aus meinem kalten Gefängnis zog. Er war meinen Spuren im Tiefschnee gefolgt und hatte mich so gefunden. Im kalten Licht des Mondes wirkte sein Gesicht hinter den Nebelwolken, die sein Atem in der nächtlichen Kälte erzeugte, noch un wirk licher. Doch passte diese Atmosphäre eines Gruselfilms genau zu dem, was gerade hinter mir lag. Fast wäre ich in ein irres Lachen ausgebrochen, als mir dieser melodramatische Vergleich durch den Kopf schoss, wäre da nicht das Zittern am ganzen Körper gewesen. Halb gelähmt vor Kälte und Entsetzen über das, was ich getan hatte, zerrte, schob und trug mich Franz bis zu den Wurzeln eines Baumes, unter dem kaum Schnee lag. Auch er schlotterte und atmete vor Kälte nur stoßweise. Dann nahm er mich aber in den Arm und hielt mich einfach fest. So standen wir eng umschlungen und vor Kälte zitternd da, weder Franz noch ich haben wohl später einmal wieder so gefroren wie in diesem kurzen Moment.
    Schließlich nahmen wir uns bei der Hand und stapften wortlos hintereinander die steile Anhöhe hinunter. Ich wimmerte leise vor mich hin, da ich meine Zehen nicht mehr spürte, und ich taumelte eher vorwärts, als dass man es als Laufen hätte bezeichnen können. Ich würde von Glück reden können, wenn ich mir nichts erfroren hatte. Wie hatte ich nur so etwas Verrücktes tun können? Als wir den Pausenhof des Gymnasiums überquerten und in den Privatweg einbogen, der zu unserem Haus führte, waren meine Finger so taub, dass ich das Gefühl hatte, sie seien mit meinen Handschuhen zusammengewachsen. Schwer atmend stieß mein Mann die Haustür auf, wir stürmten in die Küche, hielten unsere Hände vor den noch warmen Ofen, und zum ersten Mal weinte ich vor Kälte, vor Schmerzen und gleichzeitig auch vor Erleichterung. Je mehr das Gefühl in meine Finger und Zehen zurückkehrte, desto stärker wurden die Schmerzen. Nadelstiche durchzuckten meine Füße und Hände – aber ich begann mich wieder zu spüren und selbst, wenn es wehtat, das war besser als mein Zustand der gefühllosen Taubheit vor einigen Stunden!
    Wir huschten die Treppe hoch ins Bad und stellten uns zusammen unter die heiße Dusche. Als Franz seine Arme um meinen Hals legte und meinte: »Ich liebe dich doch, Julia, das musst du mir einfach glauben«, da brach alles aus mir hervor, was ich so lange unterdrückt hatte. Ich schluchzte hemmungslos und weinte, bis ich trotz des heißen Wassers aus der Dusche einen salzigen Geschmack im Mund hatte. Franz hielt mich fest, bis meine Tränen vor Erschöpfung versiegten – und auch, weil ich schlagartig begriffen hatte, dass er mir durch seinen Satz soeben zu verstehen gegeben hatte: Es gibt noch eine Chance für uns! Nichts ist verloren!
    Eng umschlungen und ohne uns abzutrocknen, schlüpften wir kurz darauf unter die Bettdecke. Und trotz unserer Müdigkeit und Erschöpfung liebten wir uns in dieser Nacht zärtlich, vertraut, aber ebenso verzweifelt. Ich beschloss, auch jetzt nicht aufzugeben, sondern weiterhin alles dafür zu tun, dass unsere Liebe bestehen konnte.
    Am darauffolgenden Morgen war von dieser Zuversicht nicht viel geblieben, ein Blick in den Spiegel führte mir all unsere Probleme wieder vor Augen, und erneut schien mir alles völlig aussichtslos zu sein. Schluss jetzt mit der Grübelei in aller Herrgottsfrühe, ermahnte ich mich selbstkritisch. Fang doch einfach mal wieder zu leben an.
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