Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel
Autoren: Ramona Ziegler
Vom Netzwerk:
bat ich ihn, und als er etwas einwenden wollte, entgegnete ich nur kurz: »Auch ich bin wichtig, dir wird schon was einfallen.«
    Danach fühlte ich mich innerlich so leer und kraftlos, dass ich es gerade noch schaffte, die Kinder zu versorgen und mir auf dem Kanapee ein Bett zu machen. Auch die Verabschiedung von Rosel, die sich in ihr Schlafzimmer zurückzog, fiel sehr kurz aus, dann versank ich innerhalb von Sekunden in eine erschöpfte, traumlose Bewusstlosigkeit, für die der Begriff ›Schlaf‹ viel zu wohlwollend gewesen wäre.
    Am nächsten Morgen wachte ich wenig erholt bereits um sechs Uhr auf. Hinter der Küchentür hörte ich Tante Rosel schon mit dem Bäcker sprechen, der seine Tageslieferung vorbeibrachte. Ich zog mich schnell an, dann öffnete ich die Tür, um Rosel zu zeigen, dass ich wach war.
    »Ich komme gleich«, rief sie mir zu und verstaute die Backwaren im Laden. »Kannst du schon mal das Frühstück machen, ich muss nur noch schnell etwas holen.« Dann verschwand sie in der kleinen Kammer neben der Küche.
    Gegen sieben saßen wir vier um den gedeckten Tisch mit der rosafarbenen Decke und begannen zu essen. Als das Geschirr wieder abgeräumt war und die beiden Jungen zufrieden die Kiste mit Spielzeug durchforsteten, die ihre Großtante hervorgeholt hatte, legte Rosel ein kleines braunes Leder album auf den Tisch. Das war es also, was sie vorhin in der Kammer für mich herausgesucht hatte.
    »Was man dir angetan hat, Julia«, begann sie, »zeugt nicht nur von einem schlechten Charakter, das sowieso, es zeugt ebenso von einer großen Einfältigkeit, ja, Dummheit, denn Menschen, die man so behandelt, werden sich wehren, sobald sie eine Möglichkeit dazu finden. Und so machen diese Dummköpfe nur ihr eigenes missglücktes Leben noch komplizierter, indem sie sich durch ihr bösartiges Verhalten ihre schlimmsten Feinde erst erzeugen.«
    Ich hörte der alten Frau, der ich seit meiner Kindheit zutiefst vertraute, gespannt zu. Dabei öffnete ich das lederne Album und sah jedes einzelne der darin enthaltenen Schwarzweißfotos lange an. Noch konnte ich zwischen den Fotos und den Worten meiner Tante keine Verbindung herstellen.
    »Dein Problem, Julia, ist, dass du einerseits ein Geheimnis nicht zu kennen scheinst, das wohl der Auslöser für all die Beschimpfungen und den Streit zwischen dir und Agnes ist. Du wirst also in der Vergangenheit suchen müssen, damit dieses Geheimnis gelöst werden kann. Und andererseits fühlst du deine Lage so ausweglos, weil du bisher nur die Wege kennst, die jedem in deiner Lage sofort einfallen. Du brauchst also eine Landkarte möglicher Wege aus deiner Misere und nicht nur ein paar ausgetretene Pfade. Bei so einer Landkarte kann ich dir, glaube ich, helfen, die Detektivarbeit in deiner Familie musst du schon selber machen.«
    Ich hing inzwischen richtiggehend an den Lippen meiner Tante, sollte sie tatsächlich eine Lösung für meine Probleme haben?
    »Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen – und so die Zukunft meistern, das habe ich mal irgendwo gelesen«, fuhr Rosel fort. »Also habe ich dir Bilder mitgebracht und eine Geschichte. Beides kann dir verdeut lichen, wie Menschen aus unserer Familie noch Schlimmeres erlebt haben als du und trotzdem ihren ganz eigenen Weg gegangen sind. Sie sind Teil unserer Vergangenheit, weil sie Teil unserer Familie sind. Danach wirst du sehen, wie in einer Familie jeder sozusagen auf den Schultern des anderen steht und dessen Fehler nicht unbedingt nochmals begehen muss – wenn er von ihnen weiß! Die Geschichte handelt von Anna, die man zu ihrer Zeit die ›Berganna‹ nannte, spielt vor mehr als hundert Jahren, und sie war meine Großmutter, zu der ich ›das Mahle‹ sagte.«
    Und dann erzählte sie mir vom Leben der Berganna, während ich in der warmen Küche saß, meinen Buben ab und zu durchs Haar strich und in dem braunen Lederalbum mit den Schwarzweißfotos unserer Familie blätterte.

BERGANNA

ERSTES KAPITEL
    Wieder einmal hatte Anna ihren Kopf durchgesetzt! Verwunderlich war das allerdings nicht. War sie doch nicht nur das einzige Mädchen unter sechs Geschwistern, sondern auch noch die Älteste von allen. Bei ihren Brüdern musste sie schon früh die Ellenbogen einsetzen, sonst hätte sie keine Chance gehabt. Und zupacken konnte sie, das hatte sie bereits oft bewiesen. Von klein auf war sie verantwortlich für die Betreuung ihrer kleinen Brüder und wenn sie später ihrer einzigen Tochter erzählte,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher