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Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel
Autoren: Ramona Ziegler
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dass sie mit neun Jahren ihren kleinsten Bruder fast ganz alleine aufgezogen hatte, weil die Mutter so viel andere Arbeit hatte, war sie sogar ein bisschen stolz da rauf. Im ganzen Dorf Bolsterlang war die Familie Bader sehr angesehen. Jeden Sonntag nahmen die Baders selbst bei Wind und Wetter den anstrengenden Weg bis nach Fischen auf sich, um den dortigen Gottesdienst besuchen zu können.
    Heute war der erste Mai – ein Tag, den Anna schon sehnsüchtig erwartet hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben durfte sie zum Maitanz nach Schweineberg auf die Wittelsbacher Höhe. Die Schweineberger veranstalteten dort jedes Jahr ein Tanzfest um den großen Lindenbaum, der dort oben stand. In den letzten Jahren hatte sich dieses Ereignis zu einem richtigen Volksfest entwickelt. Hier trafen sich nach den langen, harten Wintermonaten junge Mädchen und Burschen im heiratsfähigen Alter, um den Frühlingsbeginn zu feiern. Anna freute sich schon lange auf dieses besondere Ereignis. Sie war voller Ungeduld, denn ihre Freundinnen aus der Nachbarschaft durften bereits mit achtzehn Jahren und manchmal noch früher auf das Fest. Nur ihr Vater hatte jedes Jahr eine andere Ausrede. Doch dieses Mal hatte sie selbst ihn überzeugen können, allerdings hatte er erst nach wochenlangem Bitten und Betteln zugestimmt, seine einzige Tochter diesem ›Heiratsmarkt‹, der sich seiner Ansicht nach nicht groß von einem Viehmarkt unterschied, auszusetzen. Nur Annas sprichwörtlichem eisernen Willen war es zu verdanken, dass er am Ende klein beigegeben hatte. Ihre Überredungskünste hatten sich dabei vor allem auf ein Bündel Stoff gestützt.
    Der Vater hatte ihr zum Geburtstag aus einem Immenstädter Trachtengeschäft den Stoff für ein neues Sonntagsdirndl mitgebracht. Wie er seiner Frau später erzählte, erschien ihm total überflüssig, was die Verkäuferin alles wissen wollte. Selbst nach Augen- und Haarfarbe seiner Tochter hatte diese gefragt. Als er so genau über Anna nachdenken musste, wurde ihm zum ersten Mal wirklich bewusst, dass seine Tochter zu einer begehrenswerten jungen Frau herangewachsen war. Doch nicht nur das, Anna war ein Segen für die ganze Familie. Sie sah, wo sie gebraucht wurde, und entlastete ihre Mutter, die oft kränkelte, sehr. Noch wollte er sie nicht an einen anderen Hof und einen anderen Mann verlieren. Nein, da musste schon ein besonderer Mann kommen, der seiner Anna neben vielen Kindern und viel Arbeit etwas bieten konnte. Und dieser junge Mann war dem alten Bader noch nicht begegnet. Er hatte an jenem Tag gute Geschäfte auf dem Viehmarkt gemacht und nun wollte er mit dem Stoff seiner Tochter eine Freude machen. Annas Mutter hatte in den darauffolgenden Wochen ein schönes Dirndl genäht. Sie freute sich so sehr für ihre Anna und arbeitete mit ganz besonderer Sorgfalt.
    Am Morgen des ersten Mai zog Anna ihr neues Gewand zum ersten Mal an. Der Vater und die Brüder staunten nicht schlecht, als sie Anna aus dem Haus kommen sahen. Sie trug ein lindgrünes, in sich fein gemustertes langes Dirndl, mit zarten rosafarbigen und hellblauen Blümchen. Die Schürze war hellblau und in der Taille ganz schlicht mit einer Schleife zusammengebunden. Unter dem Dirndl kam eine weiße, ausgeschnittene Bluse zum Vorschein, die Annas zartes Dekolleté zur Geltung brachte. Ihr Haar hatte sie zu einer Gretelfrisur zusammengesteckt. Die Sonne umschmeichelte Annas feine Gesichtszüge und unterstrich die warmen Farben des frisch gestärkten Stoffes. Das Mädchen war unschuldig und rein, ja sie hatte eine fast engelhafte Ausstrahlung. Mit ihren einundzwanzig Jahren lag das ganze Leben noch vor ihr.
    Sie setzte sich mit ihren Brüdern und einigen Nachbarn auf den hinteren Teil des Pferdewagens, die Eltern saßen vorne auf dem Kutschbock und wie jeden Sonntag ging es zunächst nach Fischen zum Gottesdienst. Aber diesmal wollte die Zeit in der Kirche überhaupt nicht vergehen. Anna kamen die Minuten wie Stunden vor. Endlich war der Gottesdienst vorbei und die Baders besuchten noch zusammen das Grab der Großeltern. Danach ging es gemächlich wieder zurück nach Bolsterlang, dem elterlichen Hof entgegen. Heute ließen Anna und ihre zwei jüngsten Brüder das Mittagessen nach kurzem Protest der Eltern ausfallen, da sie nicht die Letzten auf dem Maitanz in Schweineberg sein wollten.
    Zwar hatte Anna sich durchgesetzt, was den Maitanz betraf, doch der Vater hatte darauf bestanden, dass zwei ihrer Brüder sie begleiteten, um ein Auge auf sie zu
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