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Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel
Autoren: Ramona Ziegler
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Spür dich, hör auf dich und auf deine Bedürfnisse – tu etwas für dein Wohlbefinden. Alles andere wird sich weisen. Ich verabschiedete mich schnell von Franz, der sich für die Arbeit fertig machte, und küsste Susanne, die bereits mit gepacktem Ranzen an der Tür stand. Dann zog ich die beiden Buben an, setzte Lukas in den Kinderwagen und brachte mit ihm zusammen Jonas in den Kindergarten. Auf dem Weg begegneten wir einigen anderen Müttern und Vätern, die ihre Kinder dort ablieferten. Doch ich grüßte nur kurz und blickte schnell wieder nach unten, mir war nicht nach belanglosen Gesprächen – vor allem wollte ich nicht, dass sie meine traurige Miene bemerkten. Als Jonas aus dem Kindergarten zurück war und wir mittaggegessen hatten, verspürte ich das dringende Bedürfnis, an die Luft zu gehen, es zog mich geradezu in die Natur, ich musste die Beklemmung abschütteln, die zu Hause auf mir lastete.
    Mit Lukas im Tragetuch und Jonas auf dem Schlitten machte ich mich auf. Doch es herrschte eine seltsame Stimmung auf unserem Weg den Illerdamm entlang. Nebelschwaden legten sich über die Oberstdorfer Berge, obwohl es heute Morgen noch so ausgesehen hatte, als würde es ein strahlend blauer Wintertag werden. Auch vor der Hörnerkette und den Sonnenköpfen wurde der Hochnebel immer dichter, und gerade heute hätte Sonnenschein meinem Gemütszustand gewiss besonders gutgetan. Doch immer weniger reichte die Kraft der Wintersonne aus, bis unten ins Tal durchzukommen, ein diffuses Licht legte sich über die Schneelandschaft und ließ alles seltsam konturenlos erscheinen. Der Schnee verstärkte die unwirkliche Stimmung noch, indem er jedes Geräusch verschluckte. Fast schienen wir lautlos durch die Landschaft zu schweben, auf uns zurückgeworfen, von den anderen vergessen.
    Lukas’ Schreien, dessen Hände an der kalten Luft froren, riss mich aus meiner Versenkung. Ich war nahe daran gewesen, in einem meiner tiefschwarzen ›Seelenlöcher‹ zu verschwinden, die mir inzwischen so vertraut waren, die zu mir gehörten wie meine von der Arbeit rissigen Hände oder die Müdigkeit, die mich nach jeder kleinen Anstrengung überfiel. Lukas’ Schreien hatte mich auch daran erinnert, dass ich mich nicht so gehen lassen durfte, ich brauchte ein Ziel – und ich musste dringend mit jemandem reden! Überrascht stellte ich fest, dass ich ganz unbewusst den Weg zu meiner Tante Rosel nach Westerhofen eingeschlagen hatte. Wie oft schon hatte sie mir beigestanden, wenn ich nicht mehr ein noch aus gewusst hatte. Vor ihrem Haus angekommen, war ich unendlich erleichtert, als ich sah, dass in der Küche Licht brannte, schließlich kamen wir völlig unangekündigt.
    Schnell hüpfte Jonas vom Schlitten, und mit meinen Kindern betrat ich das alte Bauernhaus. Hier hatte sich seit meiner Kindheit nichts verändert. Die Tür, durch die man sowohl das Wohnhaus als auch den kleinen Brotladen betrat, war noch immer dieselbe. Der niedrige, enge Laden, der aussah wie der Kaufladen, mit dem ich als Kind gespielt hatte, war so eingerichtet, als hätte es die letzten dreißig Jahre nicht gegeben. Lediglich die Auslage auf den alten Holzregalen war eine andere. Früher hatte Tante Rosel Süßigkeiten, Tabakwaren, Brot und süßes Gebäck sowie Getränke verkauft – heute gab es nur noch Brot und Semmeln auf Bestellung, nach denen es im Augenblick auch himmlisch duftete.
    Ich klopfte an die weiß gestrichene Küchentür und trat, ohne auf eine Antwort zu warten, ein. Holz knisterte im Ofen, und Rosel blätterte in der Zeitung und hatte einen Teller mit einer belegten Seele vor sich stehen. Sie blickte mich erfreut, aber auch etwas erstaunt über den schwarzen Rand ihrer Brille an.
    »Ja, du mein Gott, das ist aber eine Überraschung«, begrüßte sie mich. »Häng nur erst deinen Mantel auf, dann trinken wir zusammen einen Kaffee, du siehst ja ziemlich verfroren aus.«
    Nachdem ich abgelegt und Rosel die Kinder ausgiebig bewundert hatte, setzte ich mich mit Lukas und Jonas auf den Knien zu ihr. Auf dem Kanapee lag wie immer die kuschelige Wolldecke, doch mein kleiner Lukas weigerte sich, als ich ihn von seinen dicken Wintersachen befreit hatte, auf ihr liegen zu bleiben, und krabbelte stattdessen lieber in der Stube umher, um alles genauestens zu inspizieren. Jonas kritzelte derweilen mit Buntstiften in der Zeitung auf dem Tisch. Das Kanapee und der alte Tisch, das weiße Küchenbüfett und das Waschbecken aus feinem Porzellan mit dem rahmenlosen
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