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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch
Autoren: Antonio Damasio
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1. Erwachen
     
    Als ich aufwachte, ging es schon abwärts. Ich hatte geschlafen und die Ansage über Landeanflug und Wetter verpasst. Ich hatte rein gar nichts von meiner Umgebung mitbekommen, ja nicht einmal von mir selbst. Ich war ohne Bewusstsein gewesen.
    Nur wenige unserer biologischen Eigenschaften sind so scheinbar trivial wie jenes Etwas, das wir Bewusstsein nennen; zu dieser phänomenalen Fähigkeit gehören ein Geist mit einem Besitzer, einem Protagonisten des eigenen Daseins, einem Selbst, das die Welt in und um sich herum betrachtet, einem Handelnden, der offenbar allzeit bereit ist.
    Bewusstsein ist nicht nur Wachsein. Als ich vor zwei kurzen Textabschnitten aufwachte, blickte ich mich nicht einfach nur um. Ich nahm das, was ich sah und hörte, nicht so auf, als sei mein wacher Geist von allem und jedem losgelöst. Im Gegenteil: Fast im selben Augenblick, ohne mich anzustrengen und höchstens mit einer geringfügigen Verzögerung, wusste ich, dass ich das hier war, dass ich in einem Flugzeug saß, dass meine fliegende Identität nach Hause kam, nach Los Angeles, mit einer langen Liste von Dingen, die zu erledigen waren, bevor der Tag zu Ende ging. Ich verspürte eine eigenartige Kombination aus Reisemüdigkeit und Begeisterung für das, was vor mir lag. Ich war neugierig, auf welcher Landebahn wir aufsetzen würden, und lauschte auf die sich verändernden Geräusche der Triebwerke, die uns zur Erde bringen würden. Wachsein war zweifellos eine unabdingbare Voraussetzung für diesen Zustand, aber es war wohl kaum sein wichtigster Aspekt. Welches war dieser wichtigste Aspekt? Die Tatsache, dass die unzähligen in meinem Geist aufscheinenden Inhalte – unabhängig davon, wie lebhaft oder geordnet sie waren – mit mir, dem Besitzer dieses Geistes, in einer Verbindung standen. Es schien, als seien diese Inhalte durch unsichtbare Fäden zu jenem bunten, reichen, quirligen Etwas verbunden, das wir Selbst nennen. Nicht weniger wichtig war, dass die Verbindung zu spüren war. Das Erlebnis des verbundenen Ichs hatte eine Spürbarkeit .
    Aufzuwachen bedeutete, dass mein vorübergehend abwesender Geist zurückkehrte, aber mit mir darin, dem Eigentum (Geist) wie auch dem Eigentümer (Ich). Durch das Aufwachen konnte ich wieder auftauchen und mein geistiges Terrain überblicken, die von Horizont zu Horizont reichende Projektion eines magischen Films, teils Dokumentar- und teils Spielfilm, den man auch »bewusster menschlicher Geist« nennt.
    Wir alle haben freien Zugang zu unserem Bewusstsein. Es perlt in unserem Kopf so leicht und reichlich, dass wir es ohne jedes Zögern und ohne Besorgnis jeden Abend nach dem Zubettgehen abschalten lassen, und wenn am Morgen der Wecker klingelt, lassen wir es wiederkehren – mindestens 365-mal im Jahr, Nickerchen nicht mitgerechnet. Und doch ist kaum etwas anderes an unserem Dasein so bemerkenswert, grundlegend und scheinbar rätselhaft wie das Bewusstsein. Ohne Bewusstsein, das heißt ohne einen mit Subjektivität ausgestatteten Geist, könnten wir nicht wissen, dass es uns gibt, ganz zu schweigen von der Frage, wer wir sind und was wir denken. Hätte die Subjektivität nicht – anfangs vielleicht nur in bescheidenem Umfang – bei Lebewesen eingesetzt, die viel einfacher sind als wir, Gedächtnis und Vernunft hätten sich vermutlich nicht auf so üppige Weise entfalten können, und der Evolutionsweg zur Sprache sowie zu unserer raffinierten menschlichen Form des Bewusstseins hätte sich nicht eröffnet. Die Kreativität hätte nicht gedeihen können. Es gäbe keine Lieder, keine Malerei und keine Literatur. Liebe wäre nie Liebe gewesen, sondern immer nur Sex. Freundschaft wäre nur Kooperation um der Bequemlichkeit willen. Schmerzen wären nie zu Leid geworden, was vielleicht gar nicht so schlecht wäre, allerdings wäre Lust dann wohl auch nicht zum Glück geworden. Hätte die Subjektivität nicht ihren radikalen Auftritt gehabt, es gäbe kein Wissen, und niemand würde es bemerken; entsprechend gäbe es auch keine Geschichte (als Bewusstsein dessen, was die Lebewesen im Laufe der Zeitalter getan haben) und keinerlei Kultur.
    Bis hierher habe ich zwar noch keine tragfähige Definition für das Bewusstsein geliefert, aber ich habe hoffentlich schon jetzt keinen Zweifel daran gelassen, was es bedeutet, kein Bewusstsein zu haben. Ohne Bewusstsein ist die persönliche Sichtweise aufgehoben, wir wissen nichts von unserer Existenz, und wir wissen auch nicht, dass irgendetwas
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