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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch
Autoren: Antonio Damasio
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anderes existiert. Wenn sich das Bewusstsein nicht im Laufe der Evolution entwickelt und bis zu seiner menschlichen Version ausgeweitet hätte, dann hätte auch die Menschheit mit allen ihren Stärken und Schwächen, wie wir sie heute kennen, nicht entstehen können. Man schaudert bei dem Gedanken, dass eine einzige nicht vollzogene Wendung vielleicht den Verlust der biologischen Alternativen bedeutet hätte, die uns eigentlich erst zu Menschen machen. Aber wie hätten wir merken sollen, dass etwas fehlt?
     
     
    Wir halten das Bewusstsein für etwas Selbstverständliches: Es ist so leicht verfügbar, so einfach zu benutzen und so elegant mit seinem täglichen Verschwinden und Wiedererscheinen. Wenn wir aber genauer darüber nachdenken, stehen wir – Wissenschaftler ebenso wie Laien – vor einem Rätsel. Woraus besteht das Bewusstsein? Mir scheint: Aus Geist mit einem zusätzlichen Dreh. Wir können nicht bewusst sein, ohne einen Geist zu haben, dessen wir uns bewusst sind. Aber woraus besteht der Geist? Kommt er aus der Luft oder aus dem Körper? Schlaue Leute sagen, er entstamme dem Gehirn, er sei im Gehirn, aber das ist keine zufriedenstellende Antwort. Wie macht das Gehirn den Geist?
    Besonders rätselhaft ist, dass niemand den Geist eines anderen sehen kann, ob bewusst oder nicht. Wir können den Körper und die Handlungen anderer beobachten, und wir nehmen wahr, was sie tun, sagen oder schreiben. Daraus können wir begründete Vermutungen darüber ableiten, was sie denken. Aber ihren Geist können wir nicht beobachten; nur wir selbst können uns von innen betrachten, und auch das nur durch ein recht schmales Fenster. Der Geist und erst recht der bewusste Geist scheint so grundlegend andere Eigenschaften zu haben als die sichtbare lebende Materie, dass sich kluge Leute fragen, wie der eine Prozess – der bewusste Geist – mit dem anderen – den konkreten Zellen im Verbund eines Gewebes – verzahnt ist.
    Aber die Aussage, dass der bewusste Geist rätselhaft ist – was auf der Hand liegt –, bedeutet nicht, dass das Rätsel nicht zu lösen wäre. Es ist etwas anderes als Aussage: Wir werden nie verstehen, wie ein mit einem Gehirn ausgestattetes Lebewesen einen bewussten Geist entwickeln kann. 1

Ziele und Gründe
     
    Dieses Buch beschäftigt sich mit zwei Fragen. Erstens: Wie baut das Gehirn einen Geist auf? Und zweitens: Wie sorgt das Gehirn in diesem Geist für Bewusstsein? Mir ist klar, dass die Beschäftigung mit diesen Fragen nicht das Gleiche ist wie ihre Beantwortung. In Fragen des bewussten Geistes so zu tun, als habe man eindeutige Antworten, wäre töricht. Außerdem, und auch das ist mir klar, hat sich die Bewusstseinsforschung so ausgeweitet, dass es nicht mehr möglich ist, allen ihren Erkenntnissen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das hat – zusammen mit Problemen der Terminologie und unterschiedlichen Sichtweisen – zur Folge, dass Arbeiten zum Bewusstsein heute dem Gang durch ein Minenfeld ähneln. Dennoch ist es vernünftig, die Fragen auf eigene Gefahr zu durchdenken und mithilfe der vorhandenen Kenntnisse, so unvollständig und vorläufig sie auch sein mögen, überprüfbare Vermutungen anzustellen und von der Zukunft zu träumen. Dieses Buch hat das Ziel, den Vermutungen nachzugehen und ein Gerüst von Hypothesen zu erörtern. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Strukturen im Gehirn des Menschen erforderlich sind und wie es arbeiten muss, damit ein bewusster Geist entstehen kann.
    Wenn man ein Buch schreibt, sollte man einen Grund haben. Dieses hier wurde geschrieben, weil ich noch einmal von vorn anfangen wollte. Ich erforsche den Geist und das Gehirn der Menschen seit über 30 Jahren und habe auch zuvor schon Fachartikel und Bücher über das Bewusstsein verfasst. 2 Zunehmend war ich aber mit meinen Ausführungen zu dem Thema nicht mehr zufrieden, und durch das Nachdenken über einschlägige alte und neue Forschungsergebnisse haben sich meine Ansichten insbesondere zu zwei Themen verändert: zu Ursprung und Wesen der Gefühle und zu den Mechanismen, die hinter dem Aufbau des Selbst stehen. Das vorliegende Buch ist der Versuch, die aktuelle Sichtweise zu erörtern. Und in nicht geringem Umfang handelt es auch davon, was wir noch nicht wissen, aber gern wissen würden.
    Im verbleibenden Teil dieses ersten Kapitels lege ich die Fragestellung dar, beschreibe den Rahmen, in dem ich sie erörtern möchte, und gebe einen Vorgeschmack auf einige Gedanken, von denen in
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