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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch
Autoren: Antonio Damasio
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zu haben als die biologischen Gewebe und Funktionen des Organismus, der ihn hervorbringt. In der Praxis betrachten wir uns auf zweierlei Weise: Den Geist nehmen wir mit nach innen gerichtetem Blick ins Visier, die biologischen Gewebe dagegen mit einem Blick, der sich nach außen richtet. (Und obendrein erweitern wir unser Sehvermögen auch noch mit Mikroskopen.) Unter solchen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass der Geist körperlos zu sein scheint und dass seine Phänomene scheinbar in eine andere Kategorie gehören.
    Da der Geist als nichtphysisches Phänomen betrachtet wurde, das von den biologischen Vorgängen, die ihn schaffen und aufrechterhalten, getrennt ist, stellte man ihn auch außerhalb der Gesetze der Physik, eine Unterscheidung, die bei anderen Vorgängen im Gehirn in der Regel nicht getroffen wird. Ihren auffälligsten Ausdruck findet diese Eigentümlichkeit in dem Versuch, den bewussten Geist auf bisher nicht beschriebene Eigenschaften der Materie zurückzuführen und das Bewusstsein beispielsweise mit Quantenphänomenen zu erklären. Hinter diesem Gedanken steckt offenbar folgende Begründung: Der bewusste Geist erscheint rätselhaft, und da die Quantenphysik bisher ebenfalls rätselhaft ist, besteht zwischen den beiden Rätseln vielleicht ein Zusammenhang. 13
    Angesichts unserer unvollständigen Kenntnisse über Biologie wie auch über Physik sollte man mit der Ablehnung von Erklärungsalternativen vorsichtig sein. Schließlich ist unser Wissen vom Gehirn des Menschen trotz aller Fortschritte der Neurobiologie nach wie vor sehr lückenhaft. Dennoch steht immer noch die Möglichkeit offen, Geist und Bewusstsein nach dem Sparsamkeitsprinzip innerhalb der Grenzen der Neurobiologie, wie sie sich heute darstellt, zu erklären. Man sollte sie nicht aufgeben, solange die technischen und theoretischen Möglichkeiten der Neurobiologie noch nicht erschöpft sind, und danach sieht es im Moment nicht aus.
    Unsere Intuition sagt uns, der quecksilbrigen, flüchtigen Tätigkeit des Geistes fehle eine physische Erweiterung. Diese Intuition ist nach meiner Überzeugung falsch und lässt sich auf die Begrenzungen des ununterstützten Selbst zurückführen. Ich sehe keinen Anlass, ihr mehr zu trauen als früheren scheinbar offenkundigen, machtvollen Intuitionen wie den vorkopernikanischen Ansichten über Sonne und Erde oder auch der Vorstellung, der Geist sei im Herzen angesiedelt. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie zu sein scheinen. Weißes Licht ist eine Mischung aus den Regenbogenfarben, auch wenn dies mit bloßem Auge nicht zu erkennen ist. 14

Eine integrierte Sichtweise
     
    Die heutigen Fortschritte in der neurobiologischen Erforschung des bewussten Geistes erwuchsen zum größten Teil aus der Kombination von drei Sichtweisen: erstens der Sichtweise des direkt bezeugten bewussten Geistes, die persönlich, privat und bei jedem von uns einzigartig ist, zweitens der verhaltensorientierten Sichtweise, die es uns erlaubt, aufschlussreiche Handlungen anderer zu beobachten, wobei wir Grund zu der Annahme haben, dass auch diese anderen über einen bewussten Geist verfügen, und drittens der Sichtweise der Gehirnforschung, mit deren Hilfe wir bestimmte Aspekte der Gehirnfunktion an Individuen untersuchen können, deren bewusster Geisteszustand mutmaßlich entweder vorhanden ist oder fehlt. Die Befunde aus diesen drei Perspektiven reichen aber selbst dann, wenn man sie intelligent zusammenführt, in der Regel nicht aus, um einen bruchlosen Übergang zwischen den drei Phänomenen zu schaffen: der Introspektion in der ersten Person, dem äußeren Verhalten und den Vorgängen im Gehirn. Insbesondere zwischen den Befunden der Introspektion in der ersten Person und den Belegen für bestimmte Vorgänge im Gehirn besteht offenbar eine größere Kluft. Wie können wir solche Lücken überbrücken?
    Wir brauchen eine vierte Sichtweise, und dazu muss sich die Art, wie wir die Geschichte des bewussten Geistes betrachten und erzählen, radikal wandeln. In früheren Arbeiten habe ich vorgeschlagen, die Lebenssteuerung in die Unterstützung und Rechtfertigung von Selbst und Bewusstsein umzumünzen, und damit deutete sich die Richtung der neuen Sichtweise an: die Suche nach Vorstufen von Selbst und Bewusstsein in der Evolutionsvergangenheit. 15 Entsprechend gründet sich die vierte Sichtweise auf Fakten aus der Evolutions- und der Neurobiologie. Sie erfordert, dass wir uns zuerst mit früheren Lebewesen befassen und uns dann
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