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Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel
Autoren: Ramona Ziegler
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ruhig. Oma ist traurig, und du fragst einem Löcher in den Bauch.«
    Kurze Zeit später verließ der Arzt das Zimmer. Als mein Vater uns drei sah, weinte er zum Gotterbarmen. Er wollte etwas sagen, doch das ging ja nicht mehr! Meiner Mutter und mir liefen auch schon wieder Tränen übers Gesicht, und die kleine Susanne ging wortlos zu ihrem Opa ans Bett und streichelte seine Hand. Neugierig betrachtete sie den Schlauch, der von einer Flasche über ihm herabhing und an seinem Handrücken befestigt war.
    »Was ist das?«, fing sie schon wieder zu fragen an.
    »Eine Infusion«, antwortete ich pflichtschuldig.
    »Tut das weh, Opa?«, meinte sie neugierig und berührte mit ihren kleinen Fingern ganz vorsichtig den durchsichtigen, dünnen Schlauch.
    Mein Vater war halbseitig gelähmt, da gab es keinen Zweifel mehr, denn er reagierte überhaupt nicht auf ihre Be rührungen. Sechs Wochen später wurde er einer gefährlichen Bypassoperation an der Halsschlagader unterzogen. Wie uns der Arzt erklärte, war sein Gehirn während der Operation über vier Minuten lang ohne Sauerstoffversorgung gewesen, deswegen kam jetzt noch eine spastische Lähmung hinzu. Seine Beine waren Tag und Nacht so stark angewinkelt, dass seine Fersen ständig sein Gesäß berührten.
    »Aus ist. Aus ist!« Das war das Einzige, was er noch stammeln konnte. Zumindest verstanden wir seine Gurgellaute so. Seine beiden Arme waren über dem Brustkorb gekreuzt und standen ebenfalls unter ständiger Spannung, sodass die rechte Hand die linke und die linke Hand die rechte Kinnseite berührten.
    In dieser schlimmen Zeit wurde ich mit unserem zweiten Kind schwanger und obwohl ich sehr viel weinte, lachte ich mit meinem Vater auch manchmal unter Tränen. Mein Bäuchlein wuchs und wuchs, da schlug meine Mutter eines Tages vor, dass wir unser Kind Heinz nennen sollten, wenn es ein Junge würde. Ich wollte meinen Papa auf dem Sterbebett nicht anlügen und sagte: »Wir wollen unseren Sohn auf den Namen Jonas Heinrich taufen lassen«, denn so hatte ich es mit Franz schon zu Beginn meiner Schwangerschaft beschlossen. Mein Vater schien mit dem Kopf zu nicken, was wohl bedeutete, dass er einverstanden war.
    Obwohl der Arzt zu meiner Mutter gesagt hatte, dass er noch nie einen so schweren Pflegefall zu Hause behandelt hatte wie meinen Vater, hielten wir beide die Pflege zusammen durch. Es kostete uns so viel Kraft, wie wir es uns niemals hätten vorstellen können. Abend für Abend ließ ich meinen Mann zu Hause allein, und als er sich zu beschweren anfing, gab ich ihm zur Antwort: »Dich habe ich noch länger, meinen Papa nur noch für kurze Zeit!«
    Einige Wochen später meinte der Hausarzt zu meiner Mutter: »Ihr Mann wird Weihnachten nicht mehr erleben.«
    Mein Vater erlebte Weihnachten. Er lebte sogar noch mehr als eineinhalb Monate länger, als der Arzt prophezeit hatte. In ein Pflegeheim hätten wir ihn niemals getan, obwohl meine Mutter während seiner Krankheit weiterhin halbtags ar bei tete. Der Doktor kam täglich und spritzte Morphium. Es dauerte Stunden, bis das Medikament endlich seine Füße erreichte. Ganz langsam wurden seine Zehen schwarz und ganz, ganz langsam starben nicht nur die Zehen, sondern auch seine Füße immer mehr ab.
    »Aus ist. Aus ist!«, krächzte er ständig. Manchmal träumte ich schon davon. Ich konnte es nicht mehr hören. Er wusste, dass sein Leben vorbei war und dass ihm niemand mehr helfen konnte. Seine Seele war jetzt in seinem Körper wie in einem Gefängnis. Zusehends ging es ihm von Tag zu Tag schlechter. Meine Mutter weinte nur noch. Und dann hatte mein Vater noch einmal einen Schlaganfall.
    »Wenn er nicht so ein kräftiges Herz hätte, dann wäre er schon lange gestorben«, meinte unser Hausarzt. »Ich kann leider nichts mehr für ihn tun!«
    »Wie lange noch?«, fragte ich.
    »Bis zu drei Tagen«, erwiderte er beim Abschied.
    Das Herz schlug unermüdlich, sein Adamsapfel bewegte sich bei jedem Schluckreflex unaufhörlich nach oben und unten. Todesschweiß stand ihm die ganze Zeit über auf der Stirn, meine Mutter und ich wechselten uns im Rhythmus von zwei Stunden mit der Nachtwache an seinem Bett ab. Seine Augen waren nur noch halb geöffnet, und wir hielten abwechselnd seine Hand und streichelten ihm sanft über den Kopf. Wir wussten beide, dass wir den Kampf verloren hatten. Als mein Vater an einem Morgen Ende Januar gegen acht Uhr endlich sterben konnte, waren Franz und Susanne seine letzten Besucher. Meine Mutter machte
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