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Herr Lehmann

Herr Lehmann

Titel: Herr Lehmann
Autoren: Sven Regener
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dieser Welt derjenige ist, oder muß es diejenige heißen, dachte er zwischendurch, der oder die, ist ja egal, dachte er, der oder die jedenfalls unbedingtes Verständnis haben sollte für alles, was das eigene Kind so macht und tut. Berühmte Beispiele schössen ihm durch den Kopf, Mütter von Serienmördern, die beteuerten, daß sie ihr Kind dennoch über alles liebten und sich selbst die Schuld für alles gaben, die jeden Morgen ganz früh aufstanden und zum Gefängnis gingen, um ihrer verdorbenen Brut selbstgekochtes Essen und/oder Heroin zu bringen, worüber ihm dann auch wieder einfiel, worum es eigentlich ging.
    Jetzt hör mal zu, Mutter”, startete er erneut seinen Gegenangriff, “hier ist die Frage: Warum …”
    “Ich kann dich ganz schlecht verstehen. Hast du irgendwas im Mund?”
    “EINE ZUNGE”, rief Herr Lehmann giftig, du willst deutliche Sprache, Mutter, dachte er grimmig, kannst du haben. “IST ES BESSER SO?” ”
    “Du brauchst nicht so zu schreien, ich bin nicht taub. Alles, worum ich dich bitte, ist, daß du etwas deutlicher sprichst oder jedenfalls nicht ißt, während wir reden, das gehört sich nun wirklich nicht.”
    “Mutter, lenk jetzt nicht ab”, sprach Herr Lehmann übertrieben deutlich, was eingedenk seines dehydrierten Zustandes nicht leicht war. Die Dehydrierung, dachte er, aber auch der Mangel an Elektrolyten sind der wichtigste Grund für den Kater. “Warum stehst du schon um sieben Uhr auf, das war die Frage. Du bist Hausfrau, außerdem ist heute Sonntag, Mutter, du hast den ganzen Tag nichts zu tun, jedenfalls nichts, was man nicht auch später als um sieben Uhr machen könnte, warum also, wenn ich das mal so fragen dürfte, warum also stehst du in Dreiteufelsnamen morgens um sieben auf, nur um mich dann um zehn Uhr mit einem Anruf zu terrorisieren, dessen wesentlicher Inhalt darin besteht, mir zu sagen, daß du schon seit drei Stunden wach bist. Warum, Mutter, warum?”
    “Also …”, kam es leicht entrüstet und ganz und gar nicht geschlagen aus der Leitung, ” … - warum nicht?”
    Das, dachte Herr Lehmann, ist bemerkenswert. Sie ist zäh, dachte er, soviel muß man ihr lassen, sicher eine der Eigenschaften, die ich explizit ihr verdanke, dachte Herr Lehmann, der immer schon der Meinung gewesen war, daß Zähigkeit eine seiner herausragenden Eigenschaften war, geschult durch lange und erlebnisreiche Jahre ohne festes Einkommen.
    “Warum nicht? Warum nicht? Weil es sich nicht gehört”, griff Herr Lehmann zum Äußersten. “Wenn du” - Herr Lehmann bemerkte mit Erleichterung, daß mit Hilfe von Adrenalin und Disziplin seine gewohnte Eloquenz zurückkehrte; “selber sagst, daß es sich etwa nicht gehört, Mutter, daß man mit vollem Mund spricht, selbst dann nicht, wenn man um ein Gespräch nicht gebeten hat, sondern nur mit Hilfe zigfachen Klingeins aus dem Schlaf gerissen wurde, einem durch Arbeit im Schweiße seines Angesichts wohlverdienten Schlaf, wie ich noch anmerken möchte, wenn du also sagst, daß sich ebendies nicht gehört, wie kannst du dann in Gottes Namen davon ausgehen, daß es in Ordnung sei, jemanden, der nachts sein Geld verdient, der die ganze Nacht, die ganze gottverdammte Nacht arbeitet, um sein Brot sauer zu verdienen, wenn ich das mal so sagen darf, so jemanden also aus dem Schlaf zu reißen, stumpf hundertmal das Telefon klingeln zu lassen, obwohl einem dann klar sein muß, daß derjenige entweder nicht da ist oder schläft, wie also kannst du davon ausgehen, daß sich so etwas gehört? Ganz zu schweigen davon, daß, wenn du die Frage, warum du um sieben Uhr aufstehst, mehr als schlicht mit den Worten ‘warum nicht’ beantwortest, sich natürlich auch umgekehrt die Frage stellt, warum du dich darüber wunderst, daß ich um zehn Uhr noch schlafe, wo doch die Frage, warum ich das tue, ebenso leicht mit der Antwort ‘warum nicht’ beantwortet werden könnte, wenn das überhaupt eine Antwort ist und nicht etwa eine völlig unzulässige Gegenfrage!”
    So, dachte Herr Lehmann, das mußte einmal gesagt werden. Wobei es ihm andererseits jetzt, wo er ein bißchen aufgewacht war und er seinem Ärger in einer längeren Rede hatte Luft machen können, auch ein bißchen leid tat, seiner Mutter so eine Standpauke gehalten zu haben. Er war sich nicht sicher, ob das wirklich hatte sein müssen, es gehört sich eigentlich nicht, so mit seiner Mutter zu reden, dachte er, schließlich liebt man seine Mutter, sie hat einem das Leben geschenkt, dachte
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