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Herr Lehmann

Herr Lehmann

Titel: Herr Lehmann
Autoren: Sven Regener
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einer mächtigen, sabbernden Schnauze und zwei großen, lappigen Ohren, die links und rechts davon herunterhingen wie zwei welke Salatblätter. Sein Rumpf war fett, und sein Rücken so breit, daß man darauf eine Flasche Whisky hätte abstellen können, seine Beine waren dagegen unverhältnismäßig dünn, sie ragten aus dem Körper heraus wie abgebrochene Bleistifte. Herr Lehmann, der es nicht übermäßig witzig fand, daß man ihn jetzt so nannte, hatte noch nie ein so häßliches Tier gesehen. Er erschrak und blieb stehen. Er traute Hunden nicht. Und der Hund knurrte ihn an.
    Jetzt bloß nichts falsch machen, dachte Herr Lehmann, der andererseits aber auch keinen Sinn darin sah, sich wegen einer albernen Anrede groß aufzuregen, immer fest in die Augen schauen, das schüchtert sie ein, dachte er und konzentrierte seinen Blick auf die beiden schwarzen, blanken Löcher im Schädel seines Gegenübers. Der Hund zog im Rhythmus seines Knurrens die Lefzen hoch und runter und starrte zurück. Sie hatten etwa drei Schritte Abstand voneinander, der Hund bewegte sich nicht, und Herr Lehmann bewegte sich auch nicht. Nicht wegsehen, dachte Herr Lehmann, nichts anmerken lassen, einfach vorbeigehen, dachte er und machte einen Schritt zur Seite. Der Hund knurrte noch lauter, es war ein bösartiges, nervtötendes Geräusch. Bloß nichts anmerken lassen, das Tier spürt die Angst und nutzt sie aus, dachte Herr Lehmann, noch ein kleiner Schritt zur Seite, dachte er, nicht aus den Augen lassen, noch ein kleiner Schritt, und dann noch einer, so, und dann gleich geradeaus, dachte Herr Lehmann. Aber dann ging der Hund einfach auch ein Stück zur Seite, und sie standen sich wieder gegenüber.
    Er will mich nicht vorbeilassen, dachte Herr Lehmann, der seinen bald stattfindenden dreißigsten Geburtstag nicht gerade als rauschendes Fest zu feiern gedachte, gerade weil er davon überzeugt war, daß das bloß ein Geburtstag war wie jeder andere auch, und er hatte seine Geburtstage noch nie gerne gefeiert. Das ist doch lächerlich, so etwas darf es gar nicht geben, dachte er, ich habe ihm doch gar nichts getan. Er sah die großen, gelben Zähne, und es schauderte ihn bei der Vorstellung, wie sie von den riesigen Kiefern des Hundes in eines seiner Beine, in einen Arm, in seinen Hals geschlagen wurden, ja sogar um seine Hoden wurde ihm angst und bange. Wer weiß, was das für einer ist, dachte er, vielleicht ist der auf irgendwas abgerichtet, ein Killerhund, ein Hodenbeißer, einer, dachte er, der die Schlagader im Arm trifft, und dann verblutet man hier mitten auf dem Lausitzer Platz, es ist ja niemand da, der Platz ist menschenleer, dachte er, wer soll sich so früh am Sonntagmorgen schon hier herumtreiben, die Kneipen sind ja alle schon geschlossen, es ist ja immer das Einfall, das am allerspätesten zumacht, vom Abfall einmal abgesehen, aber das zählt nicht, dachte er, um diese Zeit treiben sich ja bloß noch Verrückte herum, geisteskranke Berliner mit abgerichteten Killerhunden, Perverse, die sich im Gebüsch einen runterholen, während sie sich ansehen, dachte Herr Lehmann, wie ihre beißwütigen Hunde ihr tödliches Spiel mit mir treiben.
    “Wem gehört dieser Hund hier?” rief er über den leeren Platz, “WEM GEHÖRT DIESER VERDAMMTE SCHEISSHUND?” aber niemand meldete sich. Nur der Hund knurrte noch lauter und verdrehte seinen Kopf so, daß die Augen rotglühend schimmerten.
    Es ist bloß die Netzhaut, beruhigte sich Herr Lehmann, es ist bloß die blöde Netzhaut, er hat den Kopf verdreht, und jetzt fällt das Licht so in seine Augen, daß es von der Netzhaut in meine Richtung reflektiert wird, dachte er, es ist die Netzhaut, die ist rot, Karotin, Vitamin A und so Zeug, das ist ja bekannt, daß das gut für die Augen ist, dachte er, er hatte daran eine dunkle Erinnerung aus seiner Schulzeit, er war immer gut in Biologie gewesen, aber das war nun auch schon lange her, Biologie, dachte’ Herr Lehmann, Biologie hilft jetzt auch nicht mehr weiter, ich muß hier weg, und es erfüllte ihn ein nie zuvor gekanntes Verlangen nach seinem Zuhause, einer Eineinhalbzimmerwohnung in der Eisenbahnstraße, wo seine Bücher und sein leeres Bett auf ihn warteten, keine hundert Meter entfernt von der Stelle, an der jetzt ein völlig fremder Hund sein Leben bedrohte.
    Wenn er mich nicht vorbeiläßt, dachte Herr Lehmann, den sie früher alle ganz normal Frank genannt hatten, bis eben dieser kindische Witz, ihn mit Herr Lehmann anzureden, um sich
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