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Herr Lehmann

Herr Lehmann

Titel: Herr Lehmann
Autoren: Sven Regener
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gehalten hätte, und knurrte und bellte so aggressiv auf Herrn Lehmann ein, daß dieser vor Schreck richtig wütend wurde.
    “SCHEISSE!” schrie er aus vollem Halse über den leeren Platz. “NIMM DOCH EINER DEN SCHEISSHUND HIER WEG! NIMM DOCH EINER DEN VERDAMMTEN SCHEISSHUND HIER WEG, HIMMEL, ARSCH UND ZWIRN NOCH MAL! UND HÄLT’S MAUL!” brüllte er den Hund an, der daraufhin tatsächlich verstummte.
    Herr Lehmann beruhigte sich wieder. Ich muß mich zusammenreißen, dachte er, ich darf jetzt nicht die Nerven verlieren. “Da wird man ja aggressiv”, sagte er entschuldigend.
    Der Hund setzte sich wieder. Herr Lehmann, dessen Füße von der Arbeit schmerzten, dem die Beine wie Blei und die Knochen am ganzen Körper wie zerschlagen waren, ging selbst kurz in die Hocke, um wenigstens die Beine zu entlasten. Das brachte aber nicht viel, es war auf Dauer eher noch unbequemer. Jetzt ist es auch egal, dachte er, jetzt kann ich mich auch gleich ganz hinsetzen. Er ließ sich nach hinten fallen und kam in einer Art Schneidersitz zur Ruhe. Wenn mich einer sieht, ging es ihm kurz durch den Kopf, dann muß der mich ja für den letzten Penner halten. Der Asphalt unter seinem Hintern war kalt, und er fror. Es ist die kälteste Zeit des Tages, dachte er und richtete es so ein, daß er auf dem unteren Ende seines Mantels saß. Um diese Zeit ist es arschkalt, obwohl es tagsüber noch so heiß wird, dachte er, und wie hell es schon geworden ist, das muß ja schon verdammt spät sein, dachte Herr Lehmann. Und ihm fiel auch jetzt erst auf, wie viele Vögel überall waren, sie hockten auf den Bäumen, in den Büschen, auf der hohen Umzäunung des Bolzplatzes, auf den Sitzbänken, die nicht weit von ihm zu einem Halbkreis gruppiert herumstanden und auf denen tagsüber immer einige Penner oder alte Leute oder beides saßen, sie fliegen ja gar nicht herum, wunderte sich Herr Lehmann, sie sitzen bloß da und machen Lärm, und wie sie Lärm machen, dachte er. Es gibt doch eine Menge Tiere in der Stadt, dachte Herr Lehmann, als er auch noch zwei dunkle Schatten, Kaninchen wahrscheinlich, über die Wiese bei der Kirche huschen sah.
    “Warum jagst du eigentlich keine Kaninchen?” fragte er den Hund, der sich ganz auf dem Asphalt ausgestreckt und den Kopf zwischen die Vorderpfoten gelegt hatte. Herr Lehmann entsann sich der auf nicht ganz astreine Art erworbenen Flasche Whisky, zog sie aus dem Mantel, schraubte sie auf und nahm einen kräftigen Schluck gegen die Kälte.
    “Jetzt ist das auch egal”, erklärte er dem Hund. “Du bist wahrscheinlich zu blöd oder zu langsam für Kaninchen, mit deinen komischen Beinen.”
    Der Whisky schmeckte furchtbar, wie Schnaps überhaupt, für Herrn Lehmann machten da die Feinheiten keine Unterschiede, aber er brachte etwas innere Wärme und verscheuchte noch einmal die Kopfschmerzen, die bei ihm, als Vorgeschmack auf den Kater des nächsten Tages, bereits eingesetzt hatten.
    “Du siehst ja vielleicht aus”, sagte Herr Lehmann, der sich in letzter Zeit immer öfter dabei ertappte, daß er mit einer gewissen Wehmut und ohne die früher übliche innere Abwehr an seine Kindheit zurückdachte, zum Hund, wie diese Tiere, die man als Kind aus Kastanien gemacht hat, wo man so Streichhölzer in die Kastanien steckt, als Beine und so. “Wenn ich einfach weglaufen würde, wer weiß, ob du mich überhaupt kriegen würdest, mit den Beinen.”
    Herr Lehmann nahm noch einen Schluck, der Hund tat gar nichts. “Bin selber nicht sehr schnell”, sagte er, bloß um irgend etwas zu sagen. “Wie heißt du eigentlich?”
    Er stellte die Flasche neben sich, zog die Beine an den Körper und legte die Arme darum. Der Hund blinzelte ihn friedlich an.
    “Vielleicht sollten wir mal feststellen, wie du heißt”, sagte Herr Lehmann, der das für eine gute Idee hielt. Ich muß bloß wissen, wie er heißt, dachte er, dann hört er mit dem Scheiß auf, dann wird er friedlich, mit seinem Namen ist er vertraut, er hat ja ein Halsband, also hat er ein Herrchen, also hat er einen Namen, ich brauche bloß seinen Namen zu sagen, dann fühlt er sich heimisch, dann ist Autorität da, dachte Herr Lehmann. “Bello”, schlug er vor. Der Hund rührte sich nicht. “Hasso?” Nichts.
    Dann hörte Herr Lehmann Schritte. Sie kamen von hinten. Er blickte sich um und sah eine Frau näherkommen, eine dicke Frau mit weiten Kleidern und einem Kopftuch. Eine Frau, dachte Herr Lehmann, vielleicht kann sie mich ablösen. Aber obwohl er sich
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