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Herr Lehmann

Herr Lehmann

Titel: Herr Lehmann
Autoren: Sven Regener
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gegriffen hatte, dann muß ich eben zurückgehen. Und er sah im Geiste schon die Stationen des Umwegs, den er nehmen mußte, um die tollwütige Bestie des Lausitzer Platzes weiträumig zu umgehen, Waldemarstraße, Pücklerstraße, Wrangelstraße und dann von der anderen Seite kommend in die Eisenbahnstraße hinein, das ist ein Kinderspiel, dachte er, manchmal ist ein Rückzug besser als ein Angriff, dachte Herr Lehmann, ein taktisch kluger Rückzug kann strategisch zum Sieg führen. Umzudrehen traute er sich dabei nicht, bloß nicht umdrehen, dachte er, immer dem Tier in die Augen sehen, und er machte vorsichtig kleine Schritte rückwärts, und der Hund machte knurrend kleine Schritte vorwärts. Bloß nichts überstürzen, dachte Herr Lehmann, der sich schon sehr auf das Fußbad gefreut hatte, das er sich seit einiger Zeit immer nach der Arbeit gönnte, obwohl er sich in seinem jetzigen Zustand nicht sicher war, ob er das noch hinkriegen würde, bloß nichts überstürzen, dachte er und widerstand der Versuchung, sich einfach umzudrehen und davonzulaufen, das wäre fatal, dachte er, der Hund ist schneller als ich, der springt mich von hinten an, dachte er, und dann kann man sich überhaupt nicht mehr schützen, das ist nicht gut. Nach ein paar weiteren Schritten brach der Hund, der sein Knurren jetzt schon mit einem gelegentlichen Bellen anreicherte, seitlich aus und schlich geduckten Hauptes um ihn herum, so daß Herr Lehmann, um die Bestie nicht aus den Augen zu lassen, sich auf dem Absatz drehen mußte, bis sie sich schließlich genau andersherum gegenüberstanden. Dann eben in die andere Richtung, dachte Herr Lehmann, da wollte ich sowieso hin. Er machte wieder einige Schritte zurück, und das ganze Spiel lief umgekehrt noch einmal ab, der Hund lief um ihn herum, Herr Lehmann drehte sich mit, und am Ende standen sie wieder in der Ausgangsposition. Ich muß mit ihm reden, dachte Herr Lehmann.
    “Hör mal”, begann er leise mit tiefer und, wie er hoffte, beruhigender Stimme. Der Hund setzte sich. Das ist schon mal gut, dachte Herr Lehmann. “Ich verstehe dich ja”, sagte er, “du hast es auch nicht leicht. Er griff in die Taschen seines Mantels auf der Suche nach irgend etwas, das er dem Hund schenken konnte, manchmal, dachte er, hilft nur Bestechung, es muß ja nicht gleich etwas zu essen sein, dachte er, vielleicht will er ja bloß spielen, die Besitzer solcher Hunde sagen ja immer, daß sie bloß spielen wollen, vielleicht habe ich für ihn was zum Spielen dabei, aber er fand nichts als seinen Schlüsselbund und die Flasche Whisky, denn er gehörte, wie er jetzt zum ersten Mal bedauerte, nicht zu denen, die sich die Manteltaschen mit allerlei Kram vollstopften und diesen Kram dann vergaßen und jahrelang mit sich herumschleppten. Der Hund wurde etwas nervös, und Herr Lehmann hörte auf zu fummeln. “Du kannst ruhig sitzen bleiben”, sagte er zum Hund, “ich wollte nur gucken, ob ich was für dich habe, du kriegst doch sicher manchmal auch was von deinem Herrchen, vielleicht ist es sogar ein Frauchen, mein Gott, was für Ausdrücke das sind, Herrchen, Frauchen, wer denkt sich so was bloß aus?”
    Dem Hund schien es egal zu sein; er ließ die dürren Vorderbeine einknicken, und sein fetter Leib klatschte auf den Asphalt.
    “So ist es richtig, leg dich erst mal hin”, sage Herr Lehmann, dem das Hinlegen in den letzten Jahren selbst zu einer Lieblingsbeschäftigung geworden war, und bewegte sich, während er pausenlos weiterredete, mit ganz kleinen Fußbewegungen wieder zur Seite. “Da bin ich doch der letzte, der schlafende Hunde weckt”, kalauerte er drauflos, “schlafe, mein Hundchen, schlaf ein und so, ich weiß, wie es ist, wenn man müde ist, ich kenne das, ich hab’s nämlich auch nicht leicht, ich bin auch müde, aber du, du armer kleiner Scheißer, bist noch viel müder …” - Stück für Stück bewegte er sich zur Seite, … “das macht einen Hund müde, wenn er herumläuft und die Leute bedroht, weiß der Himmel, wie man als Hund auf so einen Scheiß kommt, so, jetzt bin ich schon fast einen ganzen Meter weiter links als du, und jetzt mach ich mal einen ganz klitzekleinen Schritt nach vorne, und du schläfst jetzt mal schön, nur ein ganz kleiner Schritt nach vorne, und dann noch einer …” Der Hund schaute sich das eine Zeitlang an, dann sprang er mit einer Kraft und einer Geschwindigkeit auf, die Herr Lehmann bei diesen mageren, ganz kraftlos wirkenden Beinen nicht für möglich
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