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Herr Lehmann

Herr Lehmann

Titel: Herr Lehmann
Autoren: Sven Regener
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Tier zu ihrem Wagen schleppten.
    “Armer Kerl”, hörte er den einen sagen. Dann erwachte der Hund aus seiner Lethargie und biß zu. Herr Lehmann ging schnell weiter und lachte erst, als er um die Ecke war.

    Kapitel 2

    MUTTER

    “Frank, bist du das? Du klingst so komisch. Es hat so lange geklingelt, bis du rangegangen bist, da hab ich schon gedacht, du bist gar nicht da. Ich wollte schon wieder auflegen.”
    Herr Lehmann liebte seine Eltern. Er war ihnen für vieles dankbar, und sie lebten weit weg von Westberlin, in Bremen, das ergab einen Abstand von zwei Staatsgrenzen und einigen hundert Kilometern. Was er auch sehr an ihnen schätzte, war die Tatsache, daß sie niemals im Leben auf die Idee kämen, ihn mit Herr Lehmann anzusprechen. Das einzige Problem mit ihnen war: Sie standen gerne früh auf und riefen gerne früh an.
    “Mutter!” sagte Herr Lehmann.
    “Ich wollte schon wieder auflegen.”
    Warum, dachte Herr Lehmann, hast du es nicht getan. Ich, dachte Herr Lehmann, der sich auf seine Rücksichtnahme, die Bedürfnisse anderer Menschen betreffend, durchaus etwas zugute hielt, hätte es getan. Genauer gesagt, dachte Herr Lehmann, hätte ich es vor allem nicht dreißigmal klingeln lassen, damit geht’s doch schon mal los, dachte er. Fünfmal, das ist okay, zumal die meisten Leute Anrufbeantworter haben, die nicht ohne Grund schon nach vier- oder fünfmaligem Klingeln anspringen, dachte Herr Lehmann und bedauerte, daß er sich noch immer nicht ein solches Gerät angeschafft hatte, aber der Gedanke, zu Karstadt am Hermannplatz, also im Grunde nach Neukölln zu gehen, um so etwas zu kaufen, war ihm zutiefst zuwider.
    “Frank, bist du noch da?”
    Herr Lehmann seufzte.
“Mutter”, sagte er, “Mutter. Es ist …”, Herr Lehmann, der schon lange keine funktionierende Uhr mehr brauchte, weil er ein ausgezeichnetes Zeitgefühl entwickelt hatte und im Notfall immer noch auf öffentliche Uhren oder die telefonische Zeitansage zurückgreifen konnte, dachte kurz nach, “… höchstens zehn Uhr! Wenn du doch weißt, daß ich nachts …”
    “Schon Viertel nach zehn, da schläft man doch nicht mehr, da wundere ich  mich schon, daß du noch schläfst, ich bin schon seit sieben auf den Beinen”, sagte seine Mutter auf eine so auftrumpfende Weise, daß sich Herr Lehmann, der sich eigentlich für einen durchweg ausgeglichenen Menschen hielt, dessen Temperament sich mit den Jahren abgelagert hatte wie der Griselkram in altem, teurem Rotwein, zu einer scharfen Gegenreaktion provoziert sah.
    “Warum?” fragte er.
    “Ich wollte schon wieder auflegen, aber dann habe ich gedacht, das kann ja nicht sein, daß du schon aus dem Haus bist, du arbeitest doch immer so spät.”
    “Eben, Mutter, eben”, sagte Herr Lehmann, fest entschlossen, diesen seiner Erfahrung nach typisch mütterlichen Versuch, einer Frage auszuweichen, nicht durchgehen zu lassen. “Aber das war nicht die Frage, Mutter!”
    “Welche Frage denn?” kam es ärgerlich zurück.
    “Warum, Mutter. Ich fragte: Warum? Warum bist du seit sieben Uhr auf den Beinen?”
    “So ein Quatsch, das mache ich doch immer.”
    “Ja, aber warum?” konterte Herr Lehmann.
    “Was meinst du jetzt damit, warum?”
    “Mutter!” Herr Lehmann hatte Oberwasser. Sie hört mir zu, dachte er befriedigt, sie reagiert statt zu agieren, dachte er, sie ist jetzt in der Defensive, da heißt es nicht locker lassen, nachfassen, den Sack zumachen, die Sache zu einem befriedigenden Abschluß bringen, sie ein für allemal aus der Welt schaffen, klare Verhältnisse auch und so weiter … Leider hatte er darüber ein bißchen den Faden verloren.
    “Wie jetzt, womit?” fragte er, ärgerlich über sich selbst, “warum … ist doch klar, ich meine … , kann man ja wohl mal fragen warum, das ist eine Frage …”
    “Junge, du faselst”, kam es streng zurück. “Und sprich mal etwas deutlicher, man kann dich ja kaum verstehen.”
    “Nix da”, brauste Herr Lehmann auf, der jetzt ausgesprochen schlechtgelaunt war und sich des ganzen Elends dieser Situation bewußt wurde. Es ist erniedrigend, dachte er, fast dreißig Jahre alt zu sein und nach nur dreieinhalb Stunden Schlaf, dem ein Treffen mit einem Killerhund und zwei bescheuerten Polizisten voranging, mit schmerzendem Kopf und ausgetrocknetem Mund von der eigenen Familie beleidigt zu werden, von der eigenen Mutter, dachte Herr Lehmann, ausgerechnet von der Mutter, wo es doch immer heißt, daß die Mutter von allen Menschen
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