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Herr Lehmann

Herr Lehmann

Titel: Herr Lehmann
Autoren: Sven Regener
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Herrn Lehmann, der eigentlich lieber nachgeben und ihr versichern wollte, was sie sowieso wissen müßte, daß er nämlich nichts gesagt hatte, was darauf hindeutete, daß er sich nicht auch freute, daß man im Gegenteil ja sogar froh sein konnte, wenn der eigene Sohn es bedauerte, daß es noch so lange hin war, bis sie kamen, aber das wollte er nicht, das wäre die vollendete Niederlage gewesen, und mit den vollendeten Niederlagen bei seiner Mutter mußte jetzt mal Schluß sein. So darf das nicht ausgehen, dachte er, dann ist der ganze Tag versaut. Ihm fiel ein, wie er neulich bei seinem besten Freund Karl im Fernsehen eine Sendung über Depressive gesehen hatte, und die eine Frau hatte gesagt: Morgens ist es am schlimmsten, da fängt der Tag an”, und genauso ging es ihm jetzt, deshalb mußte er irgend etwas tun, er mußte eine letzte Attacke wagen.
    “Überwachen? Überwachen? Was denkst du denn von uns”, kam es derweil schrill aus Bremen herüber, das Weinen war schon wieder vorüber, es kommt und geht wie ein tropischer Regen, dachte Herr Lehmann.
    “Warum kommt ihr nicht noch ein bißchen später?” Herr Lehmann hatte diese plötzliche Eingebung und wußte, daß er zurück im Spiel war.
    “Wieso? Was ist denn da?” fragte seine Mutter mißtrauisch.
“Na denk mal nach … ?”
    “Aber Frank, was soll denn das jetzt!”
    “Hast du meinen Geburtstag vergessen, oder was?” Herr Lehmann haßte diesen Quatsch, aber was, dachte er, soll man machen, im Krieg ist jedes Mittel recht.
    “Wieso soll ich deinen Geburtstag vergessen haben”, kam es aus dem Hörer. Der ist doch erst im November. ”
    “Ja nun, aber wenn schon, denn schon”, sagte Herr Lehmann triumphierend.
    “Das ist doch noch lange hin, wieso fängst du denn jetzt damit an?”
    “Das ist nicht viel länger hin als die Sache, wegen der du angerufen hast.”
    “Welche Sache?”
    “Na, die mit eurem Ding, daß ihr nach Berlin kommt.”
    “Ach so, das ist doch was ganz anderes, das ist Ende Oktober. ”
    “Ende Oktober, Anfang November, wo ist da der große Unterschied. Du hast meinen Geburtstag vergessen”, sagte Herr Lehmann fröhlich. “Du hast eine Reise nach Berlin gebucht und vergessen, daß ich kurz danach dreißig Jahre alt werde.”
    “Ach Unsinn, wie sollte ich das vergessen?”
    “Das frage ich mich auch”, sagte Herr Lehmann erheitert. Ich habe gewonnen, dachte er.
    “Eine Mutter vergißt so etwas nicht. Dreißig, mein Gott, schon dreißig Jahre. Das weiß ich doch. So alt schon. Und mir ist es immer noch, als wäre es gestern gewesen, daß ich dich in meinem Arm hielt …”
    “Ja, ja …”, versuchte Herr Lehmann nun doch wieder abzuwiegeln.
    “… so ein kleines und schmächtiges Ding, was du warst. Und wir hatten so viele Sorgen wegen dir! Immer warst du krank.”
    “Ja, ja, okay!”
    “Und geschrien hast du auch so viel, ganz anders als dein Bruder. Deinen  Geburtstag vergessen, so ein Quatsch. Eine Mutter würde niemals den Geburtstag ihres Kindes vergessen.” Und dann hörte Herr Lehmann, wie seine Mutter in ihre Wohnung hineinrief: “Ernst, können wir auch noch eine Woche später fahren?”
    “Schon gut, Mutter”, rief Herr Lehmann, der nichts weniger wollte als das, aber der Faden war schon wieder gerissen, und er lauschte noch einmal einige Zeit einem aufgeregten Gemuffel auf der anderen Seite der Leitung, von dem er diesmal leider gar nichts verstehen konnte, weil seine Mutter daran gedacht hatte, ihre Sprechmuschel mit der Hand zu bedecken. Er saß mittlerweile an dem kleinen Tisch in seiner kleinen Küche, in einer etwas schrägen, ungesunden Körperhaltung, damit die Leitung reichte, und probierte jetzt erst einmal seinen Kaffee. Der einzige Nachteil bei Cowboykaffee, dachte er, besteht darin, daß es unmöglich ist dafür zu sorgen, daß sich wirklich alle Kaffeekrümel setzen, denn das tun sie im Grunde genommen, dachte er, Kaffee muß sich setzen, Tee darf ziehen, kam ihm ein alter Spruch seiner ostpreußischen Großmutter in den Sinn, und darum, dachte Herr Lehmann, ist der Kaffeefilter als solcher natürlich völlig sinnlos, aber trotzdem gibt es immer ein paar Krümel, die an der Oberfläche bleiben, das ist komisch, dachte Herr Lehmann und fragte sich, was mit diesen Krümeln los war, daß sie sich so ganz anders als ihre Kollegen verhielten.
    “Nein”, meldete sich seine Mutter wieder, “das geht leider nicht. Das ist wirklich schade.”
    “Warum nicht?” fragte Herr Lehmann grausam
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