Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr Lehmann

Herr Lehmann

Titel: Herr Lehmann
Autoren: Sven Regener
Vom Netzwerk:
zu helfen wissen, dachte Herr Lehmann. Es sollte Pflicht und moralischer Anspruch der Besitzer bzw. Betreiber von Restaurants sein, auch wenn sie Erwin heißen und meinen, jede blöde Mark mitnehmen zu müssen, dachte er, diese Restaurants, auch wenn sie vielleicht nebenher noch Kneipen sind, wogegen an sich nichts zu sagen ist, denn getrunken wird immer, das ergibt ja noch irgendwie einen Sinn, dachte er, von den Frühstückern als solchen freizuhalten, denn das sind die allerunerträglichsten Menschen überhaupt, dachte Herr Lehmann, während er noch immer wie bestellt und nicht abgeholt in der Nähe der Eingangstür stand und nicht weichen wollte, weil er den Frühstückern, die dort alles okkupierten, den Triumph nicht gönnte, ausgerechnet ihn aus der Markthallenkneipe zu vertreiben. Es ist kein Wunder, dachte er, daß einen die eigenen Kumpels nicht wahrnehmen und einem dabei helfen, einen freien Tisch und ein bißchen Ruhe zu finden, wenn sie sich gleichzeitig mit solch einem Frühstückergesocks herumschlagen müssen, wie es hier frei herumläuft.
    Warum ist zum Beispiel ein Begriff wie Orangensaft geschützt, so daß nur aus hundert Prozent Orangen hergestellter Orangensaft Orangensaft heißen darf, dachte Herr Lehmann, dem langsam, während er noch immer ratlos in der Nähe des Eingangs stand, die Beine schwer wurden, während der andere Kram je nach Fruchtgehalt aber Orangennektar oder Fruchtsaftgetränk mit Orangengeschmack heißen muß, nicht aber der Begriff Restaurant, obwohl der Begriff Restaurant bei weitem schützenswerter ist als etwa der Begriff Orangensaft, dachte er, vor allem vor den Frühstückern ist der Begriff Restaurant zu schützen, nicht aber der Begriff Orangensaft, das ergäbe keinen Sinn, ging es ihm immer sinnfreier durch den vom Schnapsgebrauch ungewöhnlich verkaterten Kopf, während er noch immer in den großen, wenigstens nicht mit Musik beschallten Raum hineinstarrte, in dem niemand, aber auch niemand Anstalten machte, einen kompletten Tisch zu räumen, was der einzige Ausweg für Herrn Lehmann gewesen wäre, außer der sofortigen Flucht natürlich, die ihm jetzt als das Beste erschien, wäre sie nicht mit Kapitulation und anschließender Ratlosigkeit verbunden gewesen.
    Er war in seiner Verzweiflung fast bereit, sich irgendwo dazuzusetzen, das tat er auch an den anderen Tagen der Woche manchmal, aber natürlich nicht an einen Tisch, an dem jemand frühstückte, was nach Herrn Lehmanns Erfahrung nicht nur eine ganz und gar absurde, sondern auch eine unangenehm raumgreifende Tätigkeit war, die aber, das fiel ihm auch jetzt, während er noch immer trotzig in der Nähe des Eingangs stand, wieder auf, für die Frühstücker der ganze Lebensinhalt zu sein schien, sie lebten darin auf, wie sie da andächtig Tellerchen hin- und herschoben, Wurstscheiben auseinanderfieselten, Eier köpften, Salatgarnituren, die gar nicht zum Essen gedacht waren, zusammengefaltet in ihre Münder schoben, Käserinden abschnitten und im Zeitlupentempo Brötchen öffneten, sie aßen nicht nur Unsinn, was an sich schon schlimm genug war, sondern frönten vor allem einem gemeinschaftlichen Ritual, dessen ganzer Sinn darin bestand, davon war Herr Lehmann jetzt überzeugt, ihm den Besuch der Markthallenkneipe unmöglich zu machen.
    Das sind ja Wahnsinnige, dachte Herr Lehmann maßlos, während er, wie auf ein Wunder wartend, in der Nähe der Tür inmitten eines unerträglichen Hin und Hers verharrte, belästigt von Leuten, die sich im Vorbeigehen wie sexuell unterzuckert an ihm rieben, obwohl er doch rücksichtsvoll darauf achtete, daß so viel Raum zwischen ihm und dem nächsten Hindernis blieb, daß auch der letzte motorische Idiot Platz zum reibungsfreien Vorbeikommen finden konnte. Frühstück, schon das Wort ist hassenswert, wenn man so darüber nachdenkt, dachte er, was soll das überhaupt heißen, Frühstück, Frühstück, das frühe Stück, wahrscheinlich haben das mal irgendwelche Bauern erfunden, dachte er, während er immer wieder seine Position verändern mußte, um den Frühstückern auszuweichen, die dauernd irgendwo aufstanden und auf dem Weg von irgendwo nach irgendwo, zum Klo und zurück oder wie auch immer, niemals aber das Lokal verlassend, was das einzig akzeptable gewesen wäre, ihn bedrängten, irgendwelche Bauern, dachte er, die sich schon vor Sonnenaufgang irgendwelche Stücke von irgendwas auf ein Messer gespießt in den Mund schieben, bevor sie rausgehen und ihre Knechte verprügeln,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher