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Herr der Daemmerung

Herr der Daemmerung

Titel: Herr der Daemmerung
Autoren: Lisa J. Smith
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außer einer gewaltigen Leere in sich, die sich unendlich in alle Richtungen erstreckte.
    Und das war gut. Sie wollte nie wieder etwas fühlen. Alles, was sie in ihrem Leben gefühlt hatte - alles, woran sie sich erinnern konnte -, war eine Lüge gewesen.
    Sie war keine Jägerin, kein Raubtier, das seinen Platz im großen Ganzen ausfüllte, indem es seine rechtmäßige Beute zur Strecke brachte. Sie war eine Mörderin. Sie war ein Ungeheuer.
    »Ich kann nicht länger hierbleiben«, sagte sie.
    Onkel Bracken zuckte zusammen. »Wohin willst du?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Er stieß den Atem aus und antwortete langsam und traurig. »Ich habe eine Idee.«

Kapitel Vier
     
    Regel Nr. 1 für das Zusammenleben mit Menschen: Wasch dir das Blut ab, bevor du ins Haus gehst.
    Jez stand an dem Außenwasserhahn und ließ sich eiskaltes Wasser über die Hände spritzen. Sie schrubbte - sehr sorgfältig - einen langen, schmalen Dolch aus gespaltenem Bambus ab, dessen Schneide so scharf war wie Glas. Als die Waffe sauber war, steckte sie sie in ihren rechten, kniehohen Stiefel. Dann betupfte sie mehrere Flecken auf ihrem T-Shirt und ihrer Jeans mit Wasser und rieb sie mit einem Fingernagel ab. Zuletzt zog sie einen Taschenspiegel hervor und musterte kritisch ihr Gesicht.
    Das Mädchen, das ihren Blick erwiderte, hatte nicht mehr viel Ähnlichkeit mit der wilden, lachenden Jägerin, die in Muir Woods von Baum zu Baum gesprungen war. Oh, die Gesichtszüge waren dieselben; die Höhe der Wangenknochen, die Wölbung des Kinns. Sie hatten sich sogar noch etwas deutlicher ausgeprägt, weil sie jetzt ein Jahr älter war. Auch die rote Mähne ihres Haares war die gleiche, obwohl sie es jetzt zurückgebunden trug, um seine feurige Unordnung zu bändigen. Doch der Unterschied lag im Gesichtsausdruck, der trauriger und weiser war, als Jez es je erwartet hätte. Und in den Augen.
    Die Augen waren nicht mehr so silbrig wie früher, nicht mehr so gefährlich schön wie früher. Aber das war zu erwarten gewesen. Sie hatte entdeckt, dass sie kein Blut zu trinken brauchte, solange sie ihre Vampirkräfte nicht benutzte. Menschliches Essen hielt sie am Leben - und ließ sie menschlicher aussehen.
    Da war noch etwas an ihren Augen. Sie waren beängstigend verletzlich, selbst für Jez. Wie sehr sie auch versuchte, sie hart und drohend wirken zu lassen, sie hatten den verletzten Blick eines Rehs, das weiß, dass es sterben wird und das diese Tatsache akzeptiert. Manchmal fragte sie sich, ob es ein Omen war.
    Nun. Kein Blut auf dem Gesicht. Sie steckte den Spiegel zurück in die Tasche. Sie fühlte sich ganz akzeptabel, auch wenn sie mit extremer Verspätung zum Abendessen kam. Sie stellte das Wasser ab und ging zur Hintertür des niedrigen, weitläufigen Ranchhauses.
    Als sie eintrat, blickten alle auf.
    Die Familie aß in der Küche unter hellem Neonlicht an dem Eichentisch mit der weißen Zierleiste. Der Fernseher plärrte fröhlich vor sich hin. Onkel Jim, der Bruder ihrer Mutter, knabberte Tacos und blätterte dabei die Post durch. Sein rotes Haar war dunkler als das von Jez, und er hatte ein längliches Gesicht, das beinah genauso mittelalterlich aussah, wie das von Jez’ Mutter es getan hatte. Die meiste Zeit wirkte er gedankenverloren, wie in einem sanften, besorgten Traum. Jetzt wedelte er mit einem Briefumschlag in Jez’ Richtung und betrachtete sie tadelnd, aber er konnte nichts sagen, weil er den Mund voll hatte.
    Tante Nanami telefonierte und trank dabei eine Cola light. Sie war klein, hatte dunkles, glänzendes Haar und Augen, die sich in Mondsicheln verwandelten, wenn sie lächelte. Sie öffnete den Mund und sah Jez stirnrunzelnd an, aber auch sie konnte nichts sagen.
    Der zehnjährige Ricky hatte karottenrotes Haar und ausdrucksstarke Augenbrauen. Er schenkte Jez ein breites Lächeln, das den Blick auf zerkaute Tacos in seinem Mund freigab, und sagte: »Hi!«
    Jez erwiderte sein Lächeln. Ganz gleich, was sie tat, Ricky war immer für sie da.
    Claire, die in Jez’ Alter war, saß geziert da und stocherte mit einer Gabel Mini-Stückchen von einem Taco. Sie sah aus wie eine kleinere Version von Tante Nan, aber mit einer sehr säuerlichen Miene.
    »Wo bist du gewesen?«, fragte sie. »Wir haben fast eine Stunde mit dem Abendessen auf dich gewartet, und du hast nicht mal angerufen.«
    »Tut mir leid«, entschuldigte sich Jez und sah sie alle an. Es war so eine unglaublich normale Familienszene, so absolut typisch, und es traf sie bis ins
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