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Herr der Daemmerung

Herr der Daemmerung

Titel: Herr der Daemmerung
Autoren: Lisa J. Smith
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Skinhead. Und noch eine Menge anderer Worte, von der Art, die Menschen gern benutzten, wenn sie erregt waren.
    »Du hast es erraten«, erwiderte Jez freundlich, ohne seine Obszönitäten zu beachten. »Du bist gar nicht so blöd, wie du aussiehst.«
    »Was - zur Hölle - bist du?«
    »Der Tod.« Jez lächelte ihn an. »Wirst du kämpfen? Ich hoffe es.«
    Er hob die Waffe wieder. Seine Hände zitterten so heftig, dass er kaum zielen konnte.
    »Ich denke, du hast keine Munition mehr«, bemerkte Jez. »Aber ein Ast wäre ohnehin besser. Soll ich dir einen abbrechen?«
    Er drückte ab. Die Waffe klickte nur. Er sah sie an.
    Jez lächelte und zeigte ihm die Zähne.
    Sie konnte spüren, wie sie wuchsen, während sie sich auf das Trinken einstellte. Ihre Eckzähne verlängerten sich und wölbten sich, bis sie so scharf, so zart und so durchscheinend waren wie die einer Katze. Es gefiel ihr, wenn sie leicht in ihre Unterlippe drückten, während sie den Mund halb öffnete.
    Doch das war nicht die einzige Veränderung. Sie wusste, dass ihre Augen sich in flüssiges Silber verwandelten und dass ihre Lippen voller und von einem satten Rot wurden, während sie sich in Erwartung von Nahrung mit Blut füllten. Ihr ganzer Körper war von undefinierbarer Energie aufgeladen.
    Der Skin beobachtete sie, während sie immer schöner wurde, immer unmenschlicher. Und dann schien er zusammenzuklappen. Mit dem Rücken am Baum rutschte er zu Boden, wo er zwischen hellbraunen Austernpilzen sitzen blieb. Er starrte geradeaus.
    Der auf seinen Hals tätowierte doppelte Blitz erregte Jez’ Aufmerksamkeit. Genau ... da, dachte sie. Die Haut schien einigermaßen sauber zu sein, und der Geruch von Blut war verlockend. Es floss dort, durchmischt mit Adrenalin, in blauen Adern direkt unter der Oberfläche. Allein der Gedanke daran, diese Quelle anzuzapfen, berauschte sie beinahe.
    Angst war gut; sie gab dem Geschmack eine zusätzliche interessante Note. Wie süßsaure Fruchtgummis. Es würde delikat schmecken ...
    Dann hörte sie ein leises, gebrochenes Geräusch.
    Der Skinhead weinte.
    Er heulte nicht laut drauflos. Schluchzte und flehte nicht. Er weinte nur wie ein Kind, und langsame Tränen rannen ihm die Wangen hinunter, während er zitterte.
    »Ich hatte mehr von dir erwartet«, sagte Jez. Sie schüttelte ihr Haar aus und warf es voller Verachtung zurück. Aber etwas in ihr schien sich zu verkrampfen.
    Er sagte nichts. Er starrte sie nur an - nein, er starrte durch sie hindurch - und weinte. Jez wusste, was er sah. Seinen eigenen Tod.
    »Na, komm schon«, sagte Jez. »Du willst also nicht sterben. Aber wer will das schon? Du hast doch selbst schon eine Menge Leute getötet. Deine Gang hat erst letzte Woche diesen Juan umgebracht. Wer austeilt, muss auch einstecken können.«
    Er sagte immer noch nichts. Er zielte auch nicht mehr mit seiner Waffe auf sie; er presste sie sich mit beiden Händen an die Brust, als sei sie ein Teddybär. Oder vielleicht, als würde er sich selbst töten wollen, um von hier wegzukommen. Die Mündung der Waffe war direkt unter seinem Kinn.
    Jez verkrampfte sich noch mehr. Verkrampfte und verzerrte sich, bis sie nicht mehr atmen konnte. Was war los mit ihr? Er war bloß ein Mensch, und noch dazu ein Mensch von der schlimmsten Sorte. Er verdiente den Tod, und nicht nur weil sie Hunger hatte.
    Aber dieses Weinen ... es schien an ihr zu zerren. Sie hatte beinahe ein Déjà-vu, als sei dies alles schon früher geschehen - aber das war es nicht. Sie wusste, dass es noch nie geschehen war.
    Endlich begann der Skin zu sprechen. »Mach es kurz«, flüsterte er.
    Und Jez’ Geist stürzte ins Chaos.
    Die Worte rissen sie aus Raum und Zeit. Sie wirbelte im Nichts umher und hatte nichts, woran sie sich festhalten konnte. Bilder leuchteten in grellen, zusammenhanglosen Blitzen auf. Nichts machte Sinn; sie stürzte in die Tiefe, und vor ihren hilflosen Augen entwickelten sich die Ereignisse.
    »Mach es kurz«, flüsterte jemand. Ein Blitz, und Jez sah, wer es war: eine Frau mit dunkelrotem Haar und zarten, knochigen Schultern. Sie hatte ein Gesicht wie eine Prinzessin aus dem Mittelalter. »Ich werde mich nicht wehren«, sagte die Frau. »Töte mich. Aber lass meine Tochter leben.«
    Mama ...
    Dies waren ihre Erinnerungen.
    Sie wollte mehr von ihrer Mutter sehen - sie hatte keine bewusste Erinnerung an die Frau, die sie geboren hatte. Aber stattdessen zuckte ein weiterer Blitz auf. Ein kleines Mädchen kauerte zitternd in einer Ecke.
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