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Hering mit Heiligenschein

Hering mit Heiligenschein

Titel: Hering mit Heiligenschein
Autoren: Claudia Toman
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den drei sauren Makis, die ich beim Vormittagsshooting klauen konnte und die in meinem Magen immer noch Hinkelsteine spielen. Mein Leben besteht nämlich daraus, Essen zu fotografieren, anstatt es zu mir zu nehmen.
    Ich hebe hilflos die beiden Aperol-Gläser, um Miss Haut-und-Knochen zu verstehen zu geben, dass ich keine Hand frei habe, worauf sie sich wortlos umdreht und sich mitsamt den Brötchen von mir entfernt. Großartig! Wieder nichts mit Befriedigung elementarer Bedürfnisse. Was für ein Scheißabend! Kein Lachs, kein Kaviar und kein Werther. Trotz der geheizten Galerieräume sind meine Arme von einer Gänsehaut überzogen. Eine Herbstkälte, die durch die dicksten Kleidungsschichten dringt. Ich versuche, die Uhrzeit von meiner Armbanduhr abzulesen, und verschütte Aperol aufs edle Parkett der kleinen Galerie in der Bäckerstraße.
    Mist! Mein Blutzuckerspiegel planscht mit meinem Hormonspiegel in einer orangefarbenen Pfütze, und neben mir steht ein Pärchen, das sich lautstark über die Zubereitung einer Quiche Lorraine unterhält. Die Stimme der Frau ist eine dieser Leierkasten-Organe, die Worte purzeln atemlos aus ihr heraus, nur die Konsonanten werden unverhältnismäßig gedehnt. Die »Eis« und »Ais« mutieren zu »s«, und als wäre das nicht schon genug akustische Lärmbelästigung, unterbrechen die beiden ihren Dialog etwa alle fünfzehn Sekunden für einen schmatzenden Kuss. Jeder davon wirft kleine, feine Wellen an der Aperoloberfläche.
    »Wie spät ist es?«, frage ich Frau Leierkasten. Sie entknotet ihre Zunge, richtet einen verwirrten Schlafzimmerblick auf mich und zuckt mit den Schultern.
    »Neunzehn Uhr vierundzwanzig«, antwortet ihr Begleiter für sie und deutet auf meine Armbanduhr. »Sagt zumindest Ihr Handgelenk.«
    Seine Knutschgefährtin kichert über diesen gelungenen Witz und schlingt die Arme um ihn. Ich unterlasse es, ihnen zu erklären, dass man nicht auf seine Uhr schauen kann, wenn man zwei volle Gläser in den Händen hat. Oder dass man zwei Gläser hält, weil man dachte, dass man nur eines davon trinken würde. Der Zustand des aperolhaltigen Stehengelassenseins ist kein anregendes Small-Talk-Thema. Paarweise Existenzen leiden nämlich unter akutem Gedächtnisverlust, was die Tücken des Single-Daseins betrifft. Sie müssen sich in Cafés nicht das Klogehen verkneifen, weil niemand ihren Tisch reserviert, oder auf Flughäfen samt Trolley durch Toilettentüren quetschen, weil kein Halt-mal-Schatz parat steht. Ich wette, es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die Blasen von Singles weit belastbarer sind als jene von Frauen in festen Beziehungen.
    »Was denken Sie?«
    Blasen,
will ich fast sagen, kann es mir aber knapp verkneifen. Die Frage kommt weder von Miss Quiche Lorraine noch von ihrem lustigen Bussibären, sondern von dem großen, schlanken Mann mit den langen Beinen, der neben mich getreten ist.
    »Wie bitte?«
    »Das Bild. Sie starren es seit mehreren Minuten unverwandt an. Da habe ich mich gefragt, was Sie wohl darüber denken.«
    Sein Deutsch ist perfekt, aber er hat einen winzigen Akzent. Mit seinem Outfit – Bluejeans, knallgelbes T-Shirt – sticht er unter all den aufgetakelten Vernissagenbesuchern und den schwarzweißen Künstlertypen heraus, die sich um uns herum im Rhythmus der orangen Häppchentabletts bewegen. Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich wie eine Irre dieses eine Bild angestarrt habe. Bei näherer Betrachtung handelt es sich um ein Frauenporträt. Die Technik des Künstlers, eines gewissen William Jonas aus London, ist es, Schwarzweißfotografien mit Öl zu übermalen. Unter der Farbschicht ist ein überbelichtetes weibliches Gesicht im Profil zu erkennen, dessen Blick auf einen Punkt vor ihm gerichtet ist. Das Foto ist mit Ornamenten in Orange übermalt, die sich zu einer Art extravagantem Haarschmuck formen.
    »Interessant«, sage ich. »Ein wenig zu viel Farbspielerei für meinen Geschmack. Das Foto darunter hätte mich mehr interessiert.«
    Tatsächlich ist mir etwas an der Fotografie vertraut, als wäre sie mir schon mal wo begegnet, eines dieser unerklärlichen Déjà-vus, die man hin und wieder hat. Ich studiere die durchblitzenden Gesichtszüge, komme aber nicht drauf.
    »Faszinierend ist immer das«, sagt der Mann neben mir, »was wir nicht so genau sehen. Was unscharf ist oder sich unter den Pinselstrichen versteckt.«
    »Haben Sie das im Katalog gelesen?«
    Ich gebe zu, ich bin insofern ein Kunstbanause, als ich Bilder zwar sehr liebe,
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