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Herbstmilch

Herbstmilch

Titel: Herbstmilch
Autoren: Anna Wimschneider
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Leute Unterwäsche und Handschuhe, auch wir Kinder nicht. Überall sah man große Eiszapfen hängen. Der Schnee auf der Straße wurde von den Männern weggeschaufelt. Einen Schneepflug gab es noch nicht. Von allen Seiten war man eingemauert. Manchmal gingen die Schneemauern fast bis zum Lichtdraht am Straßenrand. Ab und zu kam ein Pferdeschlitten die Straße entlang. Das Läuten der Glöcklein hat man schon von weitem gehört. Wenn der Schlitten dann im Trab an uns vorbeikam, rochen wir den Dung der Pferde, und wir Kinder drückten uns mit den Schulranzen an die Schneewand, damit uns auf der engen Straße nichts passierte. Viele Sperlinge saßen auf den Pferdeäpfeln und suchten sich heraus, was noch zu fressen war. Manchmal lag auch ein toter Vogel auf der Straße, der erfroren oder verhungert war. Der tat uns sehr leid.
    Als Wärmflasche hatten wir Dachziegel und große Kieselsteine. Gegen Abend wurden diese ins Bratrohr und auf die Herdplatte und, wenn sie dann heiß waren, ins Bett gelegt. Auch bei Zahnweh tat so ein Ziegel gut. Man wärmte sich auf dem Kissen eine Stelle, legte sich mit der schmerzenden Stelle drauf, und wenn dann noch vorgelesen oder gesungen wurde, war der Schmerz schon leichter zu ertragen. Mir ging es nicht so gut, wenn ich Zahnweh hatte. Oft mußte ich in der Kälte Wäsche waschen, denn die Waschbank stand draußen im Backofenhaus und war auf der Südseite offen. Das war im Sommer schön, aber im Winter pfiff der Wind und trieb den Schnee hinein. Da hatte ich dann ein dickes Tuch um den Kopf gebunden, der ganz verschwollen von Zahngeschwüren war. In kurzer Zeit war die Wäsche angefroren, da mußte ich herunter vom Schemel und die Wäsche erneut ins heiße Wasser legen. Da wir neun Personen waren, gab es viel Wäsche. Meine Hände waren ganz rot und blau gefroren. Und viel habe ich geweint.
    Bis der große Schnee kam, gingen wir in Holzschuhen, und wenn einer im Dreck steckenblieb, zogen wir ihn mit der Hand wieder heraus. Damals standen im Schulhausgang viele Holzschuhe, die kamen oft durcheinander, und es war immer ein Gerangel, bis jedes Kind seine Holzschuhe wiedergefunden hat. In der Schule saßen wir oft in nassen Strümpfen. Handschuhe, die ich und meine Schwester gestrickt haben, gab es immer zuwenig. Die Kleinsten brauchten auch schon welche, zum Schlittenfahren und Schneemannbauen. Hosen wurden jeden Tag zerrissen. Da zwang mich mein Vater, bis um zehn Uhr abends zu nähen und zu flicken, wenn alle anderen schon im Bett lagen. Auch er ging zu Bett. Wenn es mir dann gar zuviel wurde, ging ich in die Speisekammer, machte die Tür ganz auf und stellte mich hinter die aufgeschlagene Tür. Da konnte ich mich verstecken und weinte mich aus.
    Ich weinte so bitterlich, daß meine Schürze ganz naß wurde. Mir fiel dann immer ein, daß wir keine Mutter mehr haben. Warum ist gerade unsere Mutter gestorben, wo wir doch so viele Kinder sind? Dann habe ich mein Gesicht gewaschen, damit keiner merkt, daß ich geweint habe. Oft haben sie mich gefragt, warum die Schürze so naß und so zerknittert ist, aber ich habe es niemandem gesagt. Wenn zweimal in der Woche Handarbeit war, steckte mir der Vater eine alte, oft noch schmutzige Hose in den Schulranzen, die sollte ich in der Schule flicken, andere Handarbeit sei nicht nötig. Ich schämte mich, meine Handarbeit aus dem Ranzen zu nehmen. Da kam die Lehrerin und nahm sie heraus. Alle Kinder lachten über mich, ich habe mich sehr geschämt. Die anderen Kinder hatten Stickereien dabei, lauter schöne Sachen. Die Lehrerin hat dann die Mädchen zurechtgewiesen und gesagt, sie könnten froh sein, daß sie noch eine Mutter haben. Drei Mädchen waren dabei, die haben mich nicht ausgelacht, die hatten Mitleid mit mir. Sie waren daheim von ihrer Mutter aufgeklärt worden.
    Ich durfte in der Pause mit den anderen Kindern nicht mitspielen, weil ich keine Hose anhatte, so lehnte ich an der Wand und schaute zu. Eines Tages kam die Lehrerstochter zu mir, zeigte mir das große Wasserbecken im Lehrerhaus und sagte, ob ich das in der Pause vollpumpen wolle. So pumpte ich dann jeden Tag den großen Krand voll und bekam dafür von der Lehrersfrau ein Mittagessen. Einmal kamen andere Kinder und wollten mich wegdrücken. Aber die Frau ließ es nicht zu. Sie schenkte mir auch einige Kleider von ihren Töchtern. Da waren nun viele Kinder neidisch und nannten mich das Lehrerhaferl. Ein Kleid war mir zu kurz. Da machte der Vater einfach den Saum auf, doch nun hingen
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