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Heißer Schlaf

Heißer Schlaf

Titel: Heißer Schlaf
Autoren: Orson Scott Card
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erst allmählich entwickelt – es hatte angefangen, als er zwölf wurde – wahllos und flüchtig hatte er die Gedanken und Gefühle anderer Leute erkennen können. Und in jenem Zimmer hatte Jas letzte Woche plötzlich erkannt – wie ein Kind eines Tages entdeckt, daß es mit den Ohren wackeln oder die Kopfhaut verziehen kann –, daß er sein Talent bewußt einsetzen konnte. Es blieb nicht mehr bei flüchtigen Einblicken. Er las die Gedanken anderer gezielt und deutlich.
    Telepathie? Telepathen waren Ungeheuer. Telepathen waren Planetenzerstörer. Telepathen waren keine Schü ler, die Mathematikarbeiten schreiben mußten.
    Er starrte auf das Bild seines Vaters an der Decke. Die Fliesen klebten dort seit dem letzten genehmigten Umbau, als Jas sieben Jahre alt war, und er hatte das Bild sofort erkannt. Der Schnörkel war die Nase, der dunkle Fleck das Auge; die geschwungenen Bögen darunter waren die Lippen. Es war ein gütiges Gesicht, freundlich aber monströs, vertrauenerweckend und doch unglaublich. Wie war er darauf gekommen, daß es sich um seinen Vater handelte? Jas wußte es einfach. Schließlich kannte er kein anderes Bild von ihm.
    Er hätte das Gesicht gern lächeln sehen, aber es grinste immer nur, als sei es gerade im Begriff zu lachen oder als sei es des Lachens überdrüssig geworden. Oder als wisse es, daß es gleich Essen gab. Jas betrachtete das Bild, und ihn schauderte.
    Und sein Verstand kannte den Grund für diese körperliche Angstreaktion. Woher sollte ich das wissen, fragte er sich. Woher sollte ich wissen, daß die letzten drei Fragen aus dem Geheimprogramm einer fortgeschrittenen Klasse stammten und nur versehentlich in den Test geraten waren? Jas wälzte sich herum und krallte die Hand in die Matratze, teils weil es ein gutes Gefühl war, teils weil seine Mutter gesagt hatte: »Wenn du die Matratze versaust, muß sie vorzeitig ersetzt werden, und wenn sie vorzeitig ersetzt werden muß, wird die Regierung wütend.«
    Höhere Astrodynamik. Dabei war es eher Mathematik. Woher sollte ich wissen, daß es sich um hübsche kleine Spiele mit Sternen und Planeten handelte? Dabei habe ich, als ich die Lösung wußte, alles verstanden. Wieder zerwühlte Jas das Bett. Auf einmal hatte er die Lösung erhalten: Das war das Problem. Er konnte ihnen keine Ausrechnung zeigen. Er konnte ihnen nicht zeigen, wie er die korrekte Lösung gefunden hatte. »Ich rechne im Kopf«, sagte er, und dann zeigten sie ihm den Zettel, auf dem er irgend etwas anderes ausgerechnet hatte, und Jas hatte gelächelt und gesagt: »Wenigstens hin und wieder.«
    Wenn Tork doch nur ein Trottel gewesen wäre, der die Astrodynamik falsch verstanden hatte.
    Wenn Gott bloß noch lebte und nicht nur als Gesicht an der Decke.
    »Ich bin Telepath«, sagte Jas halblaut, als ob er den Satz einübte.
    Plötzlich legte sich eine Hand hart auf den Mund. Erschreckt riß er die Augen auf und sah, daß seine Mutter ihn wütend anstarrte. »Du Narr!« zischte sie. »Du bist so intelligent, daß man es nicht mehr messen kann, und du redest, als ob die Wände keine Ohren hätten!«
    »Es war nur ein Scherz«, stammelte Jas. »Ich habe mir nichts dabei gedacht …«
    »Auf dieser Welt, mein Junge, ist Denken durch nichts zu ersetzen. Warum, glaubst du, mußte dein Vater sterben?« Sie fuhr herum und verließ das Zimmer.
    Jas sah ihr nach. »Vater hatte keine Chance!« schrie er.
    »Halt den Mund und iß!« fauchte seine Mutter, die wieder schlechte Laune hatte. Wieder? Noch immer.
    Die Antworten waren einfach dagewesen, wie eine Platte, die man abspielen will, wie ein Buch, das man jederzeit lesen kann. Hinter Torks Augen hatten sie auf ihn gewartet. Jas schaute auf und sah, daß seine Mutter ihn beobachtete. Er betrachtete ihre zusammengekniffenen Lippen und ihre faltige Stirn und sah (direkt hinter ihren Augen), daß sie bereit war, jede Qual zu ertragen, wenn das nur Homer Worthing zurückbringen würde. Für einen wunderschönen Tag, für eine innige Berührung, für eine letzte, freundliche, zärtliche, hinreißende Nacht.
    »Wenn ich ihm nur ähnlicher sehen würde«, sagte Jas und wünschte sich, daß die Falten auf ihrer Stirn verschwanden.
    Ihre Augen verengten sich. »Das wünsch dir lieber nicht«, sagte sie und schob ihm über den Tisch einen Teller mit der steifen, gallertartigen Masse zu, die im Katalog Suppe hieß. Jas blieb einen Augenblick ruhig sitzen, lehnte sich dann über den Tisch, nahm seine Mutter bei den Schultern und zog sie
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