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Heißer Schlaf

Heißer Schlaf

Titel: Heißer Schlaf
Autoren: Orson Scott Card
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Leute denken?« fragte Reuben eines Tages Matthew.
    Matthew lachte. »Du bist viel zu klein.«
    Ungefähr zu der Zeit, als Reuben zwölf wurde, geschahen mit ihm drei Dinge. Sein Bein war fast ganz gesund. Auf der Brust und in der Schamgegend wuchsen ihm Haare. Und zum ersten Mal konnte er, wenn auch nur für Sekunden, erkennen, was die Leute dachten.
    Um diese Zeit kam der Fremde auf die Worthing-Farm.
    Er war klein, und seine Kleidung wirkte wie eine zweite Haut, außer, daß sie von dunkelbrauner Farbe war. Reuben, Matthew, Vater und Jacob hackten gerade Kartoffeln, als er aus dem Wald trat. Wie er die Schranke überwunden hatte, wußte niemand. Aber er war ein Fremder. Er kam von draußen und mußte gewaltige Macht besitzen.
    Reuben konnte seine Fähigkeit noch nicht kontrollieren – aber ihm gelangen kurze Einblicke. Sie waren furchterregend. Er sah Bilder von großen Hallen und riesigen Türmen, die Welt schwebte wie ein kleiner Ball in weiter Ferne, und Männer und Frauen in seltsamer Kleidung taten seltsame Dinge. Er hörte Worte und Sätze, die keine Bedeutung hatten, die aber wunderlich und sogar drohend klangen. Und er verstand auch dies:
    Der Fremde war ein mächtiger Mann, ein Mann, der es gewohnt war, den Menschen zu befehlen.
    Er verkörperte all das, was Reuben zu hassen gelernt hatte. Und in dem Augenblick, da Reuben das erkannte, nahmen Vater, Matthew und Jacob schweigend ihre Bronzehacken auf, rissen sie hoch und stürmten auf den Fremden zu.
    Später wußte Reuben nicht mehr, ob der Mann etwas gesagt hatte oder nicht. Er wußte nur, daß der Mann sie kalt ansah, sich abwandte und wieder zur Schranke zurückging. Laßt ihn nicht entkommen! schrie Rauben stumm, und die anderen meinten das auch, denn sie rannten, um den Mann einzuholen, ihn zu töten, bevor er weglaufen konnte, um noch mehr Männer zu holen, Männer mit den gleichen beängstigenden Gedanken und mit dem gleichen ruhigen Vertrauen in die eigene Stärke. Aber der Mann erreichte die Schranke, fummelte an einem Gegenstand, den er in der Hand hielt, und schritt ohne Schwierigkeiten hindurch.
    An dem gerodeten Streifen blieben die Männer stehen und schauten wortlos zu, als der Mann ruhig in den Wald zurückging. Als er nicht mehr zu sehen war, traten sie von der Schranke weg und zitterten vor Angst, was sie immer taten, wenn sie der Schranke zu lange so nahe gewesen waren.
    Sie redeten kaum über den Zwischenfall. Reuben glaubte, daß sie schwiegen, um die Frauen nicht zu beunruhigen. Aber Großmutter sah sie beim Abendessen scharf an und sagte: »Verschweigt ihr mir nicht etwas?«
    Und Vater lächelte und antwortete: »Warum schaust du mir nicht hinter die Augen und stellst es fest?«
    Großmutter streckte die Hand aus und schlug ihm leicht auf die Wange. »Ich sagte doch, ihr sollt es mir erzählen.«
    Und sie erzählten ihr von dem Fremden. Und als sie das getan hatten, sprang sie auf. »Ich wußte, daß meine Söhne Dummköpfe sind, aber daß sie so dumm sind, habe ich nicht geahnt!« Und sie rannte aus dem Haus. Sie hörten vom hellen Haus her das laute Dröhnen, und sie war verschwunden.
    Sie glaubten, sie würde bald zurück sein, aber sie kam nie wieder.
    Reuben wuchs heran und heiratete Onkel Henrys jüngste Tochter Mary, und alle ihre Söhne hatten strahlend blaue Augen, und seit Beginn der Pubertät konnten diese Söhne einander hinter die Augen schauen und erkennen, was der andere empfand. Sonst erlebte Reuben nichts, was von Wichtigkeit war; er lebte sein Leben auf der Farm zu Ende, wurde alt und erlebte noch die Geburt seiner Urenkel.
    Eines Tages aber, als er schon sehr alt war, ging er allein an die Schranke und blieb dort lange stehen. Er wußte nicht genau, warum er gekommen war. Dann endlich, um sein Verlangen zu stillen, streckte er die Hand dorthin aus, wo die Schranke immer gewesen war.
    Und fühlte nichts.
    Er trat einen Schritt vor und fühlte immer noch nichts. Er tat noch einen Schritt. Und noch einen. Dann lag die Schranke hinter ihm, und er war auf der anderen Seite, und er hatte keinen Schmerz gespürt. Er hatte überhaupt nichts gespürt. Drüben berührte er einen Baum. Er fühlte sich an wie jeder andere Baum. Auch der Himmel sah ganz normal aus, und das Laub raschelte wie sonst unter seinen Füßen.
    Dann ging er durch die Schranke wieder zurück und floh in sein winziges Zimmer an der Rückseite des alten Hauses und blieb dort zitternd über eine Stunde lang sitzen. Er sprach mit niemandem über seine
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