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Heißer Schlaf

Heißer Schlaf

Titel: Heißer Schlaf
Autoren: Orson Scott Card
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Großmutter erzählte, glaubte sie ihm nicht und sagte ihm, daß er sich daran gewöhnen müsse, sein Bein nicht gebrauchen zu können. Aber dann kam Vater und schaute Reuben mit seinen lebhaften blauen Augen an (sie sahen genauso aus wie die von Großvater) und rief: »Er sagt die Wahrheit, Mutter.« Und da weinte Großmutter vor Freude und nahm ihn ganz fest in ihre langen, kräftigen Arme.
    Und weil es besser mit ihm wurde, gab ihm Vater mehr Arbeit. Reuben lernte Seile drehen und Eimer herstellen, und er lernte alle Samen kennen und erfuhr, welche man an welchem Tag in welchem Monat des Jahres aussäen mußte. Man erklärte ihm den Kalender und nannte ihm die Namen von jedem Unkraut, aber Großmutter zeigte ihm nie den Trick, wie sie mit einem Federkiel über dünne Streifen Papier kratzte und jedesmal, wenn sie die Streifen ansah, dieselben Worte sagte. Das zeigte sie niemandem, nicht einmal Vater.
    Als Reuben acht wurde, meinte Vater, er sei nun alt genug, an dem Gang teilzunehmen.
    Reuben wollte nicht gehen, aber wenn Vater es bestimmte, gehorchten die Kinder.
    Der Gang fand an jedem siebten Tage statt. Ob Winter oder Sommer, Schneesturm oder Wind, selbst am heißesten Tag des Jahres gingen sie alle um die Mittagszeit zur nordöstlichen Ecke der Worthing-Farm. Dort wiederholte Vater genau die Worte, die Großmutter gebraucht hatte. Wenn er sie sprach, machte er allerdings nicht nur den Kindern Angst, sondern schien selbst Angst zu haben. Wenn die Worte gesprochen waren, gingen sie alle in einer Reihe die Schranke entlang um das ganze Anwesen herum. Reuben ertrug es kaum, der Schranke so nahe zu sein. Im dunklen Wald drüben, bildete er sich ein, lauerten die Anderen. Er kannte sie gut: Er hatte sie in hundert entsetzlichen Träumen gesehen. Jetzt, neben der Schranke, hatte er dasselbe Gefühl abwechselnder Hitze und Kälte, das ihn nachts schreiend aufwachen ließ. Immer wieder drehte er sich um, weil er sie sehen wollte, aber sie zogen sich aus seinem Blickfeld zurück, bevor er sie klar erkennen konnte. Er blieb seinem Vater so nahe wie möglich. Warum beeilt er sich nicht? fragte sich Reuben. Weiß er nicht, daß sie uns beobachten?
    Dann, wenn sie die Abgrenzung der Farm ganz umrundet hatten, drei Kilometer nach jeder Seite, erreichten sie erschöpft den Worthing-Stein. Es war ein glatter, silberfarbener Würfel, härter als Fels, und er glänzte immer, wenn die Sonne schien. Eine Kraft, die stärker war als alles, was sie kannten, denn sie wußten, daß sie niemals etwas in seine Oberfläche ritzen konnten, hatte seltsame Zeichen in ihn eingraviert. Es waren ähnliche Zeichen, wie Großmutter sie auf ihr Papier kratzte.

    JASON WORTHING
    Von den Sternen
    Der Blauäugige
    Aus diesem Land
    Jasons Sohn

    Und am Worthing-Stein sagte Vater mit vor Erregung zitternder Stimme: »Dieser Stein wurde von eurem Großvater markiert. Er hat ihn hier aufgestellt, um uns zu beschützen. Solange dieser Stein hier steht, können die Feinde von außerhalb der Worthing-Farm uns keinen Schaden zufügen. Aber wenn dieser Stein zu Schaden kommt, oder wenn einer der Leute der Worthing-Farm fortgeht, wird dieser Schutz enden, und ein entsetzlicher Tod wird über uns alle kommen.«
    Damit war der Gang beendet, und dankbar verließen sie die Schranke. Zuerst gingen sie langsam, dann rannten sie, und dann sprangen sie nur so über das Farmgelände, bis sie wieder im dunklen Haus waren.
    Das helle Haus durften sie natürlich nicht betreten – es gehörte Großmutter, und der Trick war, daß es wegfliegen konnte. Sie mußten sich dann alle im dunklen Haus verstecken, und plötzlich gab es einen brüllenden Lärm, und Großmutter und das helle Haus waren verschwunden. Hinter dem Schuppen erzählte Matthew Reuben einmal flüsternd: »Vater sagte mir einmal, daß sie zu Großvater fliegt.«
    Immer wenn Großmutter wiederkam, war sie tagelang sehr schweigsam; aber sie wirkte die ganze Zeit heiter und glücklich und tat lächelnd ihre Arbeit. Vater fragte sie dann: »Was ist denn so wunderbar, daß du die ganze Zeit lächeln mußt?«
    Aber Großmutter antwortete nur: »Warum siehst du mir nicht hinter die Augen und stellst es fest?«
    Immer wenn sie das sagte, wandte sich Vater wütend und beschämt von ihr ab. Matthew erzählte Reuben, das sei, weil Großvater Vater einmal schrecklich bestraft hatte, weil er Großmutters Gedanken gelesen hatte. Niemand durfte Großmutters Gedanken lesen.
    »Ob ich später auch einmal weiß, was die
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