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Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Titel: Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin
Autoren: Thommie Bayer
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mir mit ironisch-pathetischer Geste den Kühlschrank, als glitzerten
dort die Kronjuwelen von England, und ich fand mehr als genug für meine Zwecke.
Eine Packung Quark, einen Becher Joghurt, Gurke, Chicorée, Tomaten, Kartoffeln,
Schalotten, Zitrone. Ich packte alles in eine Plastiktüte, die sie für mich aus
einer Schublade holte, und verabredete mich mit ihr um halb sieben.
     
    ˜
     
    Wieso war ich so geschwätzig? Einfach Ja zu sagen wäre
doch nicht schwer gewesen, als sie mich nach Kindern gefragt hatte. Aber dann
hätte sie weitergebohrt und mich früher oder später doch an den Punkt gebracht,
der mich als verlorenes und noch immer schreckstarres Familienüberbleibsel
zeigte. Ich hätte es nicht geschafft, sie anzulügen.
    Allerdings hatte ich sie angelogen, ihr
das Wesentliche verschwiegen, nämlich dass mich Florians Tod nicht aus der Bahn
geworfen hatte. Schuld und Scham trug ich mit mir herum, was ihn betraf – die
Erinnerung an ihn war immer auch die Erinnerung an meine Gleichgültigkeit, das
Fehlen von Trauer, die Leere, die sich mit seinem Bild verband. Falls ich auf irgendeine
Trauer wartete, dann allenfalls auf die um meine Frau. Aber ich glaubte, in der
Wut, die ich nach ihrem Tod empfunden hatte, sei alle Trauer aufgelöst worden.
Schon während ihres Sterbens, dieser elenden, qualvollen Auszehrung, diesem
kläglichen Verenden, verspürte ich diese Wut. Auf ihre Überheblichkeit, die sie
selbst als Demut inszenierte, auf diesen hoffärtigen Selbstmord in Zeitlupe.
Etwas anderes als diese Wut empfand ich seither nicht mehr für sie, die uns
mutwillig alleingelassen hatte, um sich mit der arroganten Dummheit gläubiger
Fanatiker als Heldin zu gebärden. Aber um wen hatte ich dann geweint?
    Es passte mir nicht, dass Carmen jetzt Mitleid mit mir hatte. Und
dass dieses Mitleid auf falschen Voraussetzungen beruhte, passte mir noch viel
weniger. Aber ich würde den Teufel tun und ihr erklären, dass ich um meinen
Sohn keine Minute getrauert hatte und um meine Frau nur in Form eines Zorns,
der sich kaum noch von Hass unterscheiden ließ. Ich brauchte ihr das nicht zu
sagen. Sie wusste es irgendwie. Sie hatte gesagt, ich hätte meine Trauer
verpasst.
    »Du bewegst dich ja wie ein Panther«, sagte Isso, als ich durchs
Wohnzimmer zur Küche ging. Sie lag auf ihrem Sofa und fuhr die Krallen aus. Ich
hoffte, sie zöge keine Fäden aus dem Stoff, das wollte ich Carmen und Johannes
nicht antun.
    »Woher weißt du, wie sich ein Panther bewegt?«
    »Ist doch die Verwandtschaft.«
    »Entfernt«, sagte ich.
    »Großkatze oder Kleinkatze, die wesentlichen Gene sind dieselben«,
sagte sie, und mir war klar, dass ich dieses Geplänkel nicht weitertreiben
musste. Sie hatte gerade mal wieder ihre rechthaberischen Anwandlungen.
    »Mir ist gerade eine zwar schmerzhafte, aber unglaublich
wirkungsvolle Massage verabreicht worden«, sagte ich, »deshalb kann ich wieder
gehen wie ein sprungbereites Raubtier.«
    »Steht dir gut«, sagte sie. Und schloss die Augen. Und gähnte. Und
ließ ihr Gebiss klacken.
    Ich machte mir ein Butterbrot in der Küche, füllte ihr
Trockenfutterschälchen und das Wasser auf und überlegte, was ich jetzt tun
wollte, schlafen oder spazieren gehen. Oder schwimmen? Nein, am Sonntag konnte
der See bevölkert sein.
    »Hast du Lust, spazieren zu gehen?«, fragte ich Isso, aber ich sah
gleich an ihrer Haltung, dass daraus nichts wurde.
    »Muss schlafen«, sagte sie.
    Also ging ich allein los, den Weg, auf dem ich sie kennengelernt
hatte, vorbei am Holzstoß, an der Lichtung, tiefer in den Wald und irgendwann
später in ein weites Tal mit vereinzelten Häusern und Höfen. Hier konnte man
sich noch im siebzehnten Jahrhundert wähnen, man musste nur die glitzernden
Autos übersehen, die auf der Straße in der Talmitte so ziemlich das einzige
bewegliche Element in dieser dösenden und hitzeflirrenden Landschaft bildeten.
    Es lag wohl an der Tageszeit, kurz vor zwei, dass ich alleine hier
draußen unterwegs war, kein Jogger, kein Nordic-Walker, kein Hundeausführer und
kein Radfahrer störten meine Ruhe.
    Ich hatte nie von Florian geträumt. Und nur einmal von meiner Frau.
Besuchten die mich nicht? Wenn Isso recht hatte und in den Träumen eine Art
Kontaktaufnahme stattfand, dann wäre das ein deutliches Zeichen dafür gewesen,
dass keine Verbindung mehr bestand. Aber sie hatte natürlich nicht recht, das
war esoterischer Quark. Trotzdem, über mich sagte es vielleicht etwas aus: Ich
wollte diesen Kontakt
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