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Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Titel: Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin
Autoren: Thommie Bayer
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aufs Gleiche raus. Dabei schwärmt er
derart von Dir, dass ich mich beherrschen muss, nicht eifersüchtig zu werden.
Er sagt, so einen Nachbarn würde er mit Kusshand nehmen, endlich ein Mensch,
mit dem man reden könne, ohne vor lauter innerem Gähnen einen Muskelkrampf zu
kriegen. Das klingt ja grad so, als könne er mit mir nicht reden. Ich schlucke
diese herabsetzende Aussage aber widerspruchslos, weil es mir selbst nicht
anders geht: Knapp drei Stunden nachdem Du weggefahren bist, hinterlässt Du
hier schon eine Lücke.
    Nun hatte Johannes, mit dem ich ausführlich telefoniert
habe, eine Idee, die ich so gut finde, dass ich gern behaupten würde, sie käme
von mir: Sei unser Gast bis mindestens Ostern. Im Herbst und Winter will kein
Mensch das Haus mieten, ehrlich gesagt, auch im Frühjahr und Sommer kaum. Du
warst unser einziger Mieter seit Pfingsten, und davor war niemand drin seit
letztem Sommer. Wir wollen keine Miete von Dir, es reicht, wenn Du Strom, Gas
und Wasser bezahlst. Ab Ostern kannst Du unser richtiger Mieter werden, weil Du
spätestens dann in Geld schwimmen wirst, wegen des Romanerfolgs, mit dem
Johannes und ich weidlich angeben wollen, indem wir jedem erklären, die netten
Nachbarn in der Geschichte, das sind wir.
    Ich kann hier von unserem Dirigenten einen
Transporter leihen, um Deine Bücher, Deinen Drucker und den Inhalt deines
Kleiderschranks aus Berlin zu holen, ich helf Dir auch beim Renovieren Deiner
Wohnung, falls Du Dich entschließt, sie aufzugeben.
    Falls Du dieses Angebot jetzt irgendwie
märchenhaft oder gar übertrieben findest, bitte mach Dir klar, dass von unserer
Seite nur Eigennutz im Spiel ist. Johannes kriegt keine Gähnkrämpfe mehr, wir
bekommen mindestens einmal die Woche ein anständiges Beilagenmenü gekocht, das
Haus ist bewohnt und belebt und erstarrt nicht zu einer beheizten
De-facto-Ruine, mein Zigarettendepot wird bewacht, und wir gehen in die
Literaturgeschichte ein.
    Und jemand muss das ganze Zeug aus dem Garten
essen. Tomaten, Zucchini, Gurken, Bohnen, Radieschen, Salat – ich ernte mehr,
als ich brauchen kann, da muss mir jemand helfen.
    Ich lass Dich auch in Ruhe, wenn Du Konzentration
zum Schreiben brauchst, kann allerdings sein, dass Du mich dann mal rausschmeißen
musst, falls ich es nicht selber merke.
    Bitte überleg nicht lang, pack Deine Tasche
wieder voll, und nimm den nächsten Zug hierher. Alles weitere, Umzug und
eventuelle Renovierung etc., regeln wir dann wochenendweise. Und falls Du Dich
doch noch dazu entschließen solltest, Deinem Verleger die Stirn zu bieten,
treibt Johannes einen Kollegen auf, der ihm was schuldet und Dich unentgeltlich
berät oder vertritt.
    Wir würden uns alle freuen, wenn Du uns die Ehre
gäbest, unser netter Nachbar zu sein, Johannes und ich, die Mädchen und jemand,
der jetzt schon ums Haus streicht und so tut, als interessiere es ihn nicht besonders,
ob die Jalousie hochgeht oder nicht. Dieser Jemand hat graue und schwarze
Flecken und findet, es herrsche noch Gesprächsbedarf.
    Bis hoffentlich bald, Deine Carmen
     
    ˜
     
    In Kassel stand ein Zug in die Gegenrichtung auf dem
Bahnsteig. Ich bestieg ihn und setzte mich in den Speisewagen, um einer Horde
von Schülern auszuweichen, die von ihrem Ausflug in die Hauptstadt
zurückfuhren. Zum Glück fuhren sie nur bis Frankfurt mit, wo ich ein Abteil
fand, in dem ich meine Ruhe hatte.
    Wie konnte Carmen von Isso wissen? Und gar von so etwas wie
Gesprächsbedarf? Und wieso hatte Isso von meinem Sohn gewusst? Dieses Rätsel
musste ich lösen.
     
    ˜
     
    In Mannheim wachte ich von der Stimme der Ansagerin auf
und brauchte einen Moment, um mich wieder zurechtzufinden, denn ich war im
Traum auf der Buchmesse gewesen, um mein neues Buch vorzustellen, niemand sah
mich schräg an, niemand sagte Plagiator zu mir, alle waren freundlich und
enthusiastisch, und ich signierte einen ganzen Stapel Bücher.
     
    ˜
     
    Als der Zug anfuhr, beobachtete ich eine Mutter mit Kind,
einem etwa sechsjährigen Jungen, die jemandem winkten, den ich nicht sah. Einer
Oma, einer Tante oder dem Vater des Kindes. Es fühlte sich an wie ein Schwall
heißen Wassers, als mir klar wurde, dass ich wirklich meine Trauer verpasst
hatte. Es war mir jahrelang gelungen, das misszuverstehen. Ich hatte es
geschafft, den Zorn auf meine Frau für eine Art Kompensation zu halten und den
Ärger über meinen Sohn für einen Grund, ihn nicht zu vermissen.
    Die Tränen, die ich um Minnie geweint hatte, zeigten mir,
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