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Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Titel: Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin
Autoren: Thommie Bayer
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dass ich
zu glauben begann, irgendwann später könnten wir beide vielleicht wieder
Freunde werden. Wenn wir uns nur nicht sehen mussten. In zwei, drei, vier
Jahren, wenn er seine Idiotenphase überwunden haben würde und sich daran
erinnerte, dass ich ihm ein guter Vater gewesen war.
    Und als er mit dem Kätzchen vor meiner Tür stand, wertete ich das
als seinen Versuch, wieder Kontakt zu mir zu knüpfen. Vielleicht ebbte ja der
Idiotenphasen-Hormonstrom endlich ab. Aber ich merkte, dass ich den Kontakt
nicht wollte. Er würde noch ein paar Jahre warten müssen. Vielleicht für immer.
Und so kam es dann auch.
    Später hatte ich mich manchmal im Verdacht, dass ich Minnie die
Liebe zukommen ließ, die er verschmäht hatte, dass sie irgendwie die
Fortsetzung seines Lebens sei und ich über sie mit ihm Verbindung hielte, aber
das waren Gedanken, wie man sie über einen Fremden denken mag, theoretisch,
möglich, nicht bewiesen. Florian wäre dann die Fortsetzung seiner Mutter
gewesen und Minnie seine. Aber Minnie hatte ein liebenswürdiges, zärtliches
Wesen gehabt, nicht das eines stummen Rüpels mit zur höhnischen Grimasse verzerrtem
Gesicht. Wenn sie irgendwie seine Seele weitergetragen hätte, dann nur die des
Kindes, nicht die des jungen Mannes.
    »Jetzt auf den Rücken«, sagte Carmen, und ich wusste nicht, wo die
letzten Minuten geblieben waren. Ich hatte nichts gespürt. Keine Ahnung, ob sie
mir wehgetan oder was sie gesagt hatte, falls sie überhaupt geredet hatte. Ich
war weg gewesen.
    »Warum schreibst du eigentlich keine Romane mehr?«, fragte sie. »Ich
habe Die Fliegensammlung im Internet bestellt und
angefangen. Es ist gut. Gefällt mir.«
    »Hat sich so ergeben«, sagte ich.
    »Müsste aber nicht unbedingt so bleiben, oder?«
    Mein Kopf lag in ihren Händen, ich hatte die Augen geschlossen und
versuchte, mich ganz ihr zu überlassen. Ich hatte sie noch immer nicht geduzt.
Vielleicht würde sie erschrecken, wenn ich es tat. Vielleicht hatte sie den
Umstieg überhaupt nicht bemerkt.
    »Es braucht Mut«, sagte ich und staunte über meine Ehrlichkeit.
    »Und der fehlt dir?«
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht. Und es braucht auch eine Idee.«
    »Ein Mann wird zu unrecht einer Missetat beschuldigt, flieht vor dem
Skandal, findet einen Ort, an dem er zu sich selbst kommt, trifft auf nette
Gesellschaft …«
    Ich musste lachen: »Wenn es so einfach wäre.«
    Sie ließ sich nicht rausbringen: »… kommt wieder in Berührung mit
seinem Trauma und stellt fest, dass er noch immer auf die Trauer wartet, die er
irgendwie verpasst hat.«
    Was war denn jetzt los? Das hatte ich doch nicht erzählt. Konnte sie
Gedanken lesen?
    »Nein«, sagte sie, »ich lese nicht deine Gedanken, ich zähl nur eins
und eins zusammen. Du musstest gleich nach dem Tod deiner Frau so tun, als
hättest du alles verkraftet, du hattest keine Minute Zeit, in deinen Schmerz zu
fallen, weil du für deinen Sohn da sein musstest.«
    Meine Augen waren geschlossen. Es kitzelte in den Augenwinkeln. Ich
schluchzte nicht, und ich schniefte nicht, aber mir liefen die Tränen rechts
und links in die Ohren. Ich spürte, dass Carmen sie mit vorsichtigen Bewegungen
wegwischte. Dann legte sie ihre Hände wieder auf meine Schultern und ließ sie
so liegen.
    »Entschuldige«, sagte ich irgendwann.
    »Nein. Das ist gut«, sagte sie. »Ganz sicher.«
    Auf meiner Haut unter ihren Händen wurde es warm. Es wurde sogar
heiß. Ich lag da und wartete auf nichts. Wir schwiegen beide und warteten auf
nichts.
    »Fertig«, sagte sie dann leise. »Du kannst dich anziehen.«
    Sie ging aus dem Raum und ersparte es mir, ihrem Blick ausweichen zu
müssen. Ich zog mich an und folgte ihr nach oben. Sie stand in ihrer Küche und
trank ein Glas Wasser. Sie hielt es mir hin mit fragendem Gesicht – ich
schüttelte den Kopf und sagte nur: »Danke.«
    »Morgen noch mal«, sagte sie, »wenn du willst. Du brauchst noch ein
bisschen mehr davon.«
     
    ˜
     
    Als ich am Vogelhäuschen vorbeikam, hatte ich eine Idee
und ging zurück. Ihre Tür stand noch offen, und ich rief ins Haus: »Soll ich
was für dich kochen? Morgen Abend?«
    »Warum nicht heut’ Abend?« Sie kam aus der Küche, immer noch das
Wasserglas in der Hand.
    »Ich müsste erst einkaufen, und heut’ ist Sonntag.«
    »Und wenn du dich in meiner Beilagensammlung umschaust? Wir
schmeißen das Material zusammen, und du machst ein Essen draus.«
    »Mal sehen«, sagte ich und ging hinter ihr her in die Küche. Sie
öffnete
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