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Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Titel: Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin
Autoren: Thommie Bayer
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fragen könnte, wo ich die
seltsamen Kratz- und Bisswunden herhatte, Katze oder Brombeerstrauch, viel mehr
Möglichkeiten gab es nicht. Aber da sie mich nicht fragte, musste ich auch
keine Ausrede erfinden. Außerdem, wieso eigentlich? Hatte ich mich schon von
Issos konspirativem Getue anstecken lassen?
    »Haben Sie was vom Verleger gehört?«, fragte sie.
    »Nein«, sagte ich, »mein Handy ist aus, die E -Mails schau ich
nicht an, ich bin sozusagen vom Erdboden verschwunden.«
    »Aber irgendwann müssen Sie, oder?«
    »Was meinen Sie?«
    »Ihre Truppen sammeln, Ihre Verteidigung aufbauen, so was.«
    »Gar nichts mach ich. Ich wehre mich nicht.«
    »Wie bitte? Sie wollen sich das gefallen lassen?«
    »Ja. Der Verbrecher kriegt, was er will, und ich gebe ihm nicht die
Ehre, mich zu wehren.«
    »Das ist …«, sie brauchte eine Weile, um das richtige Wort zu
finden, »… bekloppt.«
    »Mag sein«, sagte ich, »aber es fühlt sich erstaunlich gut an.«
    »Kann ich nicht nachvollziehen.«
    »Müssen Sie nicht.«
    »Klingt das ein kleines bisschen arrogant?«
    »Das sollte es nicht. Ich weiß eben nur, was ich will. Vielleicht
ist es mir ja recht, dass er mein Leben zertrümmert. Vielleicht finde ich das
ja gut.«
    »Der betrügt, und Sie lassen ihn damit durchkommen.«
    »Ja.«
    »Sie brauchen einen Arzt.«
    Nach dieser harschen Abfuhr für meine Haltung sagte sie erst mal
nichts mehr, aber mir schien, als griffen ihre Hände jetzt ruppiger zu. Ich
wusste auch nicht, was ich reden sollte, überließ mich ihrer Behandlung und
stellte fest, dass ich das Schweigen zwischen uns nicht unangenehm fand. Trotz
Dissens, obwohl sie mich für bekloppt erklärt hatte, fühlte sich dieses
Schweigen ausgeruht an.
    »Am Mittwoch kommt meine Familie wieder«, sagte sie schließlich mehr
zu sich selbst als zu mir, »Johannes holt die beiden ab bei seinen Eltern in
Hannover.«
    »Freuen Sie sich?«
    »Ja«, sagte sie und drückte auf eine offenbar sehr verspannte
Stelle, dass mir fast die Luft wegblieb, »und nein. Ich weiß dann zwar wieder,
wozu ich auf der Welt bin, aber die trubelfreien Tage hatten auch was. Ich
könnte mich dran gewöhnen.«
    »Gemischte Gefühle«, sagte ich.
    »So wie es immer ist. Eindeutig ist nichts im wirklichen Leben.
Eindeutig ist es immer nur in Büchern oder Filmen.«
    »Aua«, sagte ich, denn jetzt schien sie die allerschmerzhafteste
Stelle gefunden zu haben.
    »Da müssen Sie durch. Wird gleich besser.«
    Sie hatte recht. Ob ich mich nur an den Schmerz gewöhnte, oder ob er
tatsächlich nachließ, konnte ich nicht sagen, aber es wurde besser.
    »Haben Sie Kinder?«
    Ich schwieg. Vielleicht schwieg ich zu lange, denn sie fragte
irgendwann: »Trete ich Ihnen zu nahe?«
    »Nein«, sagte ich. »Nein für beides. Ich habe keine Kinder, und Sie
treten mir nicht zu nahe. Ich musste nur nachdenken, die Antwort ist nicht
einfach.«
    Jetzt schwieg sie. Sie wartete, ob ich weiterreden wollte, und falls
nicht, würde sie mich in Ruhe lassen. Vielleicht war es diese Gewissheit, dass
sie mich nicht bedrängte, dass sie mein Schweigen akzeptieren würde, ohne diese
Wendung für peinlich zu halten, die mich dazu brachte, ihre Geduld zu belohnen.
    »Ich hatte einen Sohn«, sagte ich, »er ist tot seit sechzehn
Jahren.«
    »Das tut mir leid.« Ihre Stimme war leise.
    Ich war froh, dass ich auf dem Bauch lag und jetzt nicht ihr Gesicht
sehen konnte, ob sich darin Mitleid, Schrecken oder peinliches Berührtsein
zeigte, und ich war froh, dass sie meins nicht sah, in dem sich nichts zeigte.
Vor allem kein Schmerz. Vielleicht deshalb, weil ich mich neutral fühlte,
unbeteiligt, unbetroffen, redete ich weiter.
    »Er war siebzehn und brachte mir ein kleines Kätzchen, das ich hüten
sollte, solange er mit seinen Freunden in Portugal war. Und eine Woche später
kam er im Sarg nach Hause. Er war von einer Klippe gestürzt.«
    Wir schwiegen. Ihre Hände waren jetzt wieder sehr viel sanfter.
Irgendwann sagte sie leise: »Und seine Mutter?«
    »Die starb, als er sieben war.«
    Jetzt bewegten sich ihre Hände nicht mehr. Sie lagen zwischen meinen
Schulterblättern. Ihre Stimme war noch leiser als eben: »Das ist ja furchtbar.«
    »Es war furchtbar«, sagte ich, »jetzt
nicht mehr, jetzt ist es nur noch lange her.«
    »Wie ist sie gestorben?«
    »Sie hatte Krebs, Brustkrebs, und sie hat sich der Medizin verweigert,
nur diesen Scharlatanscheißdreck mitgemacht. Meditation, Ayurveda, Homöopathie
– es war entsetzlich. Sie war so
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