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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52
Autoren: Selim Oezdogan
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Fatma, du könntest |291| eine Werkstatt aufmachen, ein wenig Handel treiben, ich könnte Teppiche weben. Du hast zwei Pferde, wir könnten woanders leben.
    Ja, er hatte zwei Pferde und einen Esel, ja, er hatte etwas Geld, aber wo sollten sie hin? Fort aus der Stadt, weg von allen Verwandten und Freunden, in eine andere kleine Stadt, wo sie niemanden kennen würden?
    – In die Fremde? fragte er.
    – Wir könnten aufs Dorf ziehen, sagte Fatma.
    – Du weißt doch gar nicht, wie das ist, das Leben dort ist ganz anders. Die haben nicht mal Klos, die hocken sich in die Sträucher.
    – Wir könnten ein Klohäuschen bauen. Du könntest die Schmiede behalten und hin- und herreiten, nebenbei das Obst und Gemüse der Bauern auf dem Markt verkaufen. Timur, wir könnten unser eigenes Leben leben.
    – Ich überlege es mir.
    Und damit er besser nachdenken konnte, nahm er sich frei und fuhr mit dem Zug nach Ankara. Er wollte ein paar Tage lang das Leben in der großen Stadt genießen, Autos sehen, die Häuser der Reichen, die Geräusche und Gerüche, die Menschenmassen. Tagsüber saß er in Teehäusern und fing Gespräche mit den Großstädtern an. Die einen sagten, der Krieg würde bald vorbei sein, die anderen sagten voraus, er würde noch lange andauern und die Deutschen würden in einem halben Jahr vor Istanbul stehen wie die Osmanen einst vor Wien. Für Timur war dieser Krieg trotzdem weit weg, er hörte zu, aber als sich eine Gelegenheit ergab, wechselte er schnell das Thema und versuchte herauszubekommen, wer wie er Anhänger von Beşiktaş war. Fußball interessierte ihn mehr als Politik.
    Und am meisten interessierten ihn die Abende in der Großstadt. Ein paar Stunden in einem Lokal den leicht bekleideten Sängerinnen zuhören und dabei ein, zwei Gläser |292| trinken, ein Stück Honigmelone essen, etwas Schafskäse, und schon nach dem dritten Glas verschmolz er mit dem Klang. Und noch später lag er allein und entspannt in einem billigen Hotelzimmer, die Sorgen hatten aufgehört, sein Geschäft war weit weg, seine Mutter auch, hier kannte ihn niemand, er hatte sich verloren in der großen Stadt, er hatte sich verloren, als würde er Habgier verlieren, Streben, Bedenken, Ketten. Er hatte sich verloren, um sich lächelnd auf einem Hotelbett wiederzufinden, sein Atem gleichmäßig und ruhig.
    Als er zurückkam, sagte er:
    – Der Winter ist keine gute Zeit zum Umziehen.
    Im Frühjahr hatte Timur ein Haus gefunden und ihren Hausrat auf dem Rücken der Pferde und des Esels dorthin gebracht. Er hatte einen Pferdewagen gemietet, um das Bett, das mittlerweile zurückgekommen war, zu transportieren, und schließlich hatte er seine Frau geholt. Zwei Stunden hatte sie auf dem Rücken des Esels gesessen, bis sie ankamen. Der Ritt auf einem der Pferde dauerte nur etwa halb so lang.
    Es war Fatmas Idee gewesen, aufs Dorf zu ziehen, doch sie kannte Dörfer nur aus Erzählungen, und Dorfbewohner waren ihr bisher nur als Händler auf dem Markt begegnet.
    Als sie an ihrem ersten Tag im neuen Haus abends im Bett lagen, fragte Fatma:
    – Sind die Frauen hier alle miteinander verwandt?
    – Nein, wieso?
    – Die tragen alle die gleichen Kleider. Timur lachte.
    – Das ist hier so. Wir sind jetzt auf dem Dorf. Er lachte, aber er machte sich Sorgen.
    Er fragte sich, ob Fatma sich hier einleben könnte, während er fast jeden Tag zur Schmiede in die Stadt reiten würde, um dort zu arbeiten. Doch als er nach einer Woche kurz vor der Dämmerung im Dorf ankam, sah er Fatma auf dem Dorfplatz sitzen, die jungen |293| Frauen und Mädchen hatten sich um sie versammelt und hörten ihr zu.
    Als Fatma ihn erblickte, sprang sie auf, doch er bedeutete ihr, sitzen zu bleiben, stieg ab, führte sein Pferd am Zügel in den Stall und rauchte auf den Stufen vor dem Haus eine Zigarette, während er zusah, wie die Sonne unterging.
    – Märchen, war das erste Wort, das Fatma sagte, als sie hinüberkam. Ich habe ihnen Märchen erzählt. Sie kennen keine Märchen. Das ist doch erstaunlich, oder? Ich dachte immer, die Märchen kämen aus den Dörfern in die Stadt … Du bist früh dran, ich habe gedacht, du kommst so spät wie in den letzten Tagen. Das Essen ist fertig.
    Drinnen blickte der Schmied auf den Teppich im Webstuhl, sah, daß sie gearbeitet hatte, und lächelte leise in sich hinein.
     
    Timur kaufte den Dorfbewohnern Bohnen ab, Weizengrütze, im Sommer und Herbst auch Tomaten, Brechbohnen, Melonen, Weintrauben, Äpfel und Aprikosen. Er belud seinen
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