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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52
Autoren: Selim Oezdogan
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Bett, das sie wieder jemandem geliehen hatten, der gerade heiratete, ohne Bett, aber mit den Kühen und Hühnern.
    – In ein paar Jahren wird jeder in der Stadt wissen, wie die Könige schlafen, sagte Timur und tat so, als würde er sich darüber ärgern. Doch in Wirklichkeit war er stolz auf dieses Bett, und wenn es gerade ausgeborgt war, dachte er voller Vorfreude daran, schon bald wieder morgens aufwachen zu können, ohne als erstes den festgestampften Lehmboden zu sehen und zu riechen.
    Gül hatte sehr schnell angefangen zu sprechen. Dafür brauchte sie länger als andere Kinder, bis sie laufen lernte, sie war fast schon zwei, und ihre Mutter fing an, sich Sorgen zu machen, während der Schmied nur lachte. Gül krabbelte, aber nicht so wie andere Kinder, sie krabbelte rückwärts und drehte immer den Kopf über die Schulter, um zu sehen, was hinter ihr war.
    – Eine verrückte Rose, sagte Timur.
    Als Fatma zum zweiten Mal schwanger wurde, konnte Gül schon laufen. Eines Nachts lag Fatma wieder in Timurs Armen auf einem Friedhof und spürte es erneut ganz deutlich. Es war Neumond, und Fatma hatte das Gefühl, daß die Geister der Toten ihr wohlgesonnen waren, wohlgesonnen und erstaunlich nahe.
    – Timur, sagte sie, hättest du eigentlich lieber einen Sohn oder noch eine Tochter?
    – Die Hände und Füße sollen an den richtigen Stellen sein, antwortete der Schmied, das Kind soll gesund sein und mit einer Mutter und einem Vater aufwachsen. Das ist das wichtigste.
    – Du wirst noch eine Tochter bekommen. Weißt du schon, wie du sie nennen möchtest?
    – Melike.
     
    |302| Melike schrie die Nächte durch, sie brüllte, bis sie im Gesicht ganz lila wurde, mal saugte sie gierig an der Brust, mal mochte sie gar nichts, und manchmal schien es, als würde sie nur schlafen, wenn alle ohnehin bei Kräften waren. War Fatma übermüdet und ausgelaugt und schwach, konnte sie sicher sein, daß Melike die ganze Nacht lang weinen würde. Doch kein einziges Mal hörte man Fatma stöhnen.
    – Was ist das nur für ein Kind? fragte Timur seine Frau.
    – Es ist ein anderes Kind, antwortete sie. Sie ist unruhig und eigenwillig. Du hast sie Melike genannt, Königin, und jetzt benimmt sie sich auch so.
    Timur lachte, nahm die Kleine auf den Arm, biß sie leicht in die Wange und sagte:
    – Das werden wir dir noch austreiben.
    Fatma lächelte. Wenn Timur das Dach ausgebessert hatte und am nächsten Tag ein Tropfen Regen von der Zimmerdecke in seinen Tee fiel, schleuderte er sein Glas gegen die Wand. Daran konnte sie nichts ändern. Wenn Beşiktaş verloren hatte, konnte er tagelang aufbrausend sein. Wenn in der Schmiede etwas nicht gelang, hämmerte Timur wie wild und hatte hinterher schwarze Blutergüsse unter den Nägeln.
    Dieser Mann würde Melike gar nichts austreiben, er liebte seine Töchter, ja, er nahm sich Zeit für sie, er war ganz vernarrt in die Mädchen, aber ebensowenig, wie Fatma ihn ändern konnte, würde er seine Kinder ändern können.

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Informationen zum Buch
    Lang war die Reise, lang wie die Reisen in Märchen. Gül hat Tage gebraucht, um nach Deutschland zu kommen, und sie weiß noch nicht, dass die Jahre wie Wasser dahinfließen werden, bis ihr Haus in der Türkei gebaut ist und sie zurückkehren kann.Bis dahin lernt sie alle Arten der Sehnsucht kennen: die nach ihren beiden Töchtern, nach ihrem Vater, dem Schmied, nach Düften und Farben und Früchten. Doch unmerklich wird die Heimstraße in diesem kalten, unverständlichen Land zu einer anderen Heimat.„Euer Leben wird in der Fremde vergehen“, warnt man sie. Aber die ganze Welt ist eine Fremde, wenn man nicht bei den Seinen ist. Geht es ihren Töchtern gut, ist Gül, als hätte das Leben keine Grenzen mehr. Wer ihre geduldige Zuversicht kennt, muss dem Stoßseufzer einer Freundin zustimmen: „Dank sei dem Herrn für dieses Herz, in dem alle Platz haben.“

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Informationen zum Autor
    Selim Özdogan wurde 1971 geboren und lebt in Köln.
Er veröffentlichte die Romane "Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist" (1995), "Nirgendwo & Hormone" (1996), "Mehr" (1999) und "Ein Spiel, das die Götter sich leisten" (2002) sowie "Ein gutes Leben ist die beste Rache" (Stories, 1998) und "Trinkgeld vom Schicksal" (Geschichten, 2003).
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