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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden
Autoren: Ulrike Draesner
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fühlte und den Erwachsenen fortan ein aus Worten abgeleitetes, aber kaum in Worte zu fassendes Wissen verheimlichte.
    – Wow, ruft meine Schwester!
    Ich laufe ins Wohnzimmer. Ein Deutscher ist überraschend auf den ersten Platz gesegelt. Schmal steht er in seinem silbernen Anzug vor der Kamera. Hermes-Beine! Er schultert seine Ski und stapft zum Lift. Erst die zweite Runde nach der Pause wird zeigen, ob er hält, was er verspricht.
    Auf die Probe gestellt werden soll in Thomas Manns Roman auch der Marquis de Venosta, dessen unstandesgemäßes Liebesverhältnis in Paris den Eltern nicht gefällt. Weil der junge Marquis seiner Neigung selbst nicht traut, weil er die Geliebte nicht entbehren mag, und nicht zuletzt, weil Krull es ihm geschickt souffliert, hält er es für eine geniale Idee, den gewandten Felix an seiner Stelle die elterlich verordnete Weltreise antreten zu lassen. Noch vor einer Stunde hätte ich mich aus dem Krull an nichts weiter erinnert als an die Sexszene und die Musterung beim Militär, bei der Krull als geschickter Held des Anders-Seins einen epileptischen Anfall simuliert. Nun, beim Lesen, kommen weitere Details zurück. Bücher sind Bestandteil einer innerlich archivierten Welt – ihre erneute Lektüre wird zu einem Schlüssel in die Bibliothek des eigenen Ichs, in der sich unerwartet Räume öffnen, die 25 Jahre lang kein Lichtstrahl streifte. So kann ich mich beim Lesen doppelt beobachten, mich erfahren als Wesen zwischen damals und heute. Die unglaubliche Wirkung der nächtlichen Hotelszene an der Sechstklässlerin stellt sich, wen wundert’s, nicht mehr ein. Als Erinnerung indes versetzt sie mich in einen längst verlorenen Kopf und Körper zurück – das Mädchen, das ich einmal war, mit seinen Träumen, Erwartungen, Zweifeln, seiner Aufregung.
    Mein Neffe holt mich, als der zweite Durchgang des Springens beginnt. Man startet in rückwärtiger Folge, der Beste zum Schluss. Eine Nervenprobe: Wie lange es dauert, bis die Zehntelsekunde, auf die Jahre des Trainierens zulaufen, endlich gekommen ist. Ich stehe hinter meiner Schwester. Ein Österreicher ist 129 Meter weit geflogen. Neuer Schanzenrekord. Dreimal sehen wir ihn abspringen, einmal real, zweimal in der Zeitlupenwiederholung. Dreimal dasselbe Stückchen Zeit. Durch die Wiederholung wird es schwammig, zerfahren, irreal, aber kommt näher. Ein Augenblick spaltet sich: Er ist Vergangenheit in meiner Gegenwart, auf alle Zukunft hin abrufbar. Medien machen Brei aus der Zeit, indem sie sie zerhäckseln, in kleinste Scheiben filetieren. Brei und Stückchen, ein Widerspruch? Nein, ein Paradox. Was sehr klein wird oder sich in Schleifen einordnet, wird von uns als Kontinuum wahrgenommen. Dies gilt auch für uns selbst.
    Wer einen Roman schreibt, handelt stets mit Zeit: Mit ihrer Neigung, sich zu dehnen, zu schrumpfen, in einem Froschaugen-Objektiv zu verschwimmen oder Blasen zu werfen wie kochende Milch. Wenigstens einen expliziten Zeitroman wollte Thomas Mann schreiben, es wurde der Zauberberg . In der Handlung vergehen die Jahre vor dem damals noch »der Große« genannten Ersten Weltkrieg; zugleich ist Zeit expliziter Reflexionsgegenstand der Figuren und ihres Erzählers. Zum Ende aber wird sie in der Struktur des Textes (fast) unterlaufen; der Zeitzusammenhang zerfällt mit der letzten, irgendwo auf den Schlachtfeldern des Krieges lokalisierten Szene. Auch die Figuren haben sich, bereits früher, daran gemacht, Zeit zu verändern: In spiritistischen Sitzungen wird sie zurückgedreht, bis selbst Tote erscheinen.
    Dieses Zerfallen der Zeit ist kein isoliertes Phänomen. Einer der besten Romane Virginia Woolfs, To the Lighthouse , besteht aus drei Teilen, deren mittlerer in einem bildintensiven Prosafluss das Vergehen der Zeit in einem verlassen stehenden Haus so schildert, dass man versteht, dass inzwischen anderswo Schlachten geschlagen werden und Nächte nicht mehr enden. Zeit ist unsichtbar, aber wenn man sie braucht, um etwas zu zeigen, zeigt sie sich mit. Als Vergehen, als Leerraum, auf ein paar Seiten nur, ragt sie als Balken mitten durch Woolfs Roman. To the Lighthouse hat in der Mitte ein Loch. Der Zauberberg bricht am Ende in Teile auf. Das Wann, mit ihm das Wo und fast auch das Wer gehen verloren. Wie zuvor, bei der Rückkehr von Toten, ist, was kommt, nur mehr Erinnerung.
    Zahlreiche Texte nach 1918 weisen solch ein Loch auf – in der Sprache oder in ihren Figuren, im Konflikt zwischen experimenteller und traditioneller
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