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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden
Autoren: Ulrike Draesner
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Dingen. Vor dem, was gilt.
    Zum zweiten: Als der Erzähler endlich auf Bruno stößt, zeigt dieser ihm den Rücken, dreht sich langsam um und – ist ein Rind. Erzählerisch ist das erneut geschickt, seelisch klug. Der Schrecken macht den Ernst fühlbar, der die Suche des Erzählers vorantreibt. Dieser Ernst seinerseits ermöglicht es uns, Bruno-Mensch und Bruno-Tier mitfühlend erleben zu können. Man lacht, und ist zugleich von der Passion des Erzählers berührt.
    Sein Bruno-Ich gibt auch nach Brunos Tod nicht auf. Es legt Feuerkerne in den gebirgigen, nachhangenden Wald. Ein wider Willen gefundener Freund verhindert, dass das Holz wirklich brennt; schützend ist er dem Nachgänger des Bären nachgegangen. Diese Figur rührt an: weil es manchmal gut ist, wenn der eigene Plan misslingt. Wenn man bebt – aber einmal, auch, gehalten wird.
    So sind sie nun versammelt, jene drei Kategorien, die Falkner im Unwert des Gedichts zu den Existenzbedingungen des Dichters zählt. Ihre Unzeitgemäßheit und ihr Anspruch ließen mir das Herz schneller schlagen: Unterscheidungsfähigkeit, Herzensgüte, Noblesse. 99
    Falkners Texte zeigen eine Möglichkeit, ich nenne sie »Bär«, auch heute von und mit diesen Existenzbedingungen zu sprechen: stets versteckt, aber aus dem Versteck gelockt, in Aus- und Abschnitten angeleuchtet, gepaart mit Komik, Zweifel, Wut und Bescheidenheit, begleitet also von Widersprüchen, Bärenaufbindungen, Abstürzen und knappen Rettungen. Gezeigt unter Masken, angedeutet und angeschnitten, und im Text selbst umgesetzt durch sprachliche Genauigkeit, die den Leser ehrt, weil sie ihn als intelligentes, empfindliches Subjekt seinerseits auf Bärensuche schickt.
    Hell Hören
    Bärenohren ragen, die Muscheln nach vorn gerichtet, aus dem pelzigen Kopf. Man sieht an dieser Ohrstellung, dass Bären keine Fluchttiere sind. Anders als wir: Unsere Ohren sitzen seitlich. Angreifer sind wir und Flüchter, angewiesen darauf, rundum zu hören.
    Falkners Satz-um-Satz-Genauigkeit bringt Texte zum Schwingen, damit wir uns mit Sprache einmal mehr um einen Gedanken drehen, mal zornig, mal augenzwinkernd, immer mit Bildkraft und ja, Schönheit und Harmonie. Sie sind das Ziel der Härte der Form. Allerdings in einem spezifischen Danach: nach »nach der Natur«. Nach dem Zynismus, dem Pathos, den Pathos-Tabus. In einer Welt, die Sprechformen für Gefühle dringend braucht, diese Gefühle zugleich aber fürchtet. Falkner tastet sie aus.
    Tübinger Stift
    nur einen jener
elenden sätze
er schreiben noch wollte
    die enden in
dieser ersatzlosen helle
innerster
    sprache. sein körper
die stelle nicht mehr
noch seine stimme
    die dringende drohung
schönheit
läge nicht in ihrer macht
    denn schlackenlos die
zur notwendigkeit nur
wo sie ihr trotzt 100
    Formt man die Ohren eines Menschen in Gips ab und setzt die getrockneten Schalen einem anderen so auf, dass aller Schall für ihn nun durch die Fremdohren gebrochen wird, hört der Proband nichts. Sein Gehirn ist so verwirrt, dass es die Signale nicht verarbeiten kann.
    So unsere schwerfällige Physiologie.
    Da lächelt die Dichtung. Mit ihr streift man sich die Ohren eines anderen über. Langsam öffnen sich seine Augen in uns nach innen und außen.
    Und?
    Zieh dir die fremd-vertraute Welt eines Falknerschen Gedichts über den Kopf, bis du Funken schlägst.
    94 Gerhard Falkner, Endogene Gedichte , Köln 2000, S.106 – © Gerhard Falkner
    95 Gerhard Falkner, Hölderlin-Reparatur, Berlin 2008, S. 24
    96 Endogene Gedichte , S. 108 – © Gerhard Falkner
    97 Gerhard Falkner, Gegensprechstadt – ground zero , Berlin 2005, S. 92
    98 Gerhard Falkner, Bruno , Berlin 2008, S. 7
    99 Gerhard Falkner, Vom Unwert des Gedichts , Berlin 1993, S. 61
    100 Endogene Gedichte , S. 17 – © Gerhard Falkner

VOM HELDENMUT
DES LESERS



GEDANKEN ZUM ALTERN ANLÄSSLICH DER WIEDERLEKTÜRE VON THOMAS MANNS LETZTEM ROMAN
    Dass es um Sex gehen würde, ahnte meine Mutter nicht, als sie mir Ostern 1974 Felix Krull in die Hand drückte.
    – Ja, sagt sie am Telefon, Die Buddenbrooks.
    – Aber nein, rufe ich, Krull, die erste richtige Liebesszene meines Lebens. Asterix durfte ich nicht lesen, aber das!
    – Was, das?
    Ich bin für ein paar Tage zu Besuch bei meiner Schwester.
    – Geschichtsunterricht, sagt sie, als ich ihr von Mutters Frage erzähle. Meine Schwester hockt im Garten und versucht, Tulpenzwiebeln in die Erde zu stecken. In der Ausfahrt buddeln meine Neffen ein Loch und gießen Wasser hinein. Sie
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