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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden
Autoren: Ulrike Draesner
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einen Flug. Der Augenblick ist so kurz, dass er auch für die Sportler nicht planbar ist; er gelingt nur, wenn Kopf und Körper sich vollkommen verschränken, wenn beides fliegt.
    [Ich] neigte […] mich statt aller Antwort vollends zu ihr hinab und senkte meine Lippen auf ihre. Nicht nur aber, dass sie den Kuss noch weitgehender ausgestaltete als den ersten vom Nachmittag, wobei es an meinem Entgegenkommen nicht fehlte, – so nahm sie auch meine Hand aus ihrer Stütze und führte sie in ihr Dekolleté zu ihren Brüsten, die sehr handlich waren, führte sie da am Gelenk herum auf eine Weise, dass meine Männlichkeit, wie ihr nicht entgehen konnte, in den bedrängendsten Aufstand geriet. 101
    Endlich: Felix, als Liftboy Armand, liegt im Zimmer der reichen Madame Houpflé. In meinem Erinnerungskopf ist diese Diane steinalt, runzelig, mit hängenden Brüsten. Beim Wiederlesen entpuppt sie sich als etwa in meinem heutigen Alter. Sie hält sich einen jungen Liebhaber, der ihr gleich mehrfach gefällt. Ebenso erregend wie seine hermesgleiche Schönheit findet sie seinen tiefen Sozialstatus; das Geständnis schließlich, dass er es war, der ihr am Bahnhof das Köfferchen mit Juwelen stahl, erscheint ihr als superbe Erniedrigung. So belohnt sie den zweiten Koitus damit, sich zur ultimativen Steigerung des Genusses noch einmal von ihm bestehlen zu lassen. Ein schönes Tauschgeschäft: Er bezahlt den ersten Diebstahl durch Beischlaf (»ich hatte ihr mein Bestes gegeben, hatte, genießend, wahrlich abgezahlt« 102 ), sie den zweiten Beischlaf durch geduldeten Diebstahl, dem sie ›beiwohnen‹ darf. Teuer, dieser Callboy des Glücks. Raffiniert lässt Thomas Mann die Erotik der Szene noch einmal kulminieren, als alles bereits (zweimal) geschehen ist:
    So war ich ihr denn zu Willen. Behutsam hob ich mich fort von ihr und nahm im Zimmer, was sich da bot – überbequem zum Teil […] Trotz tiefer Dunkelheit fand ich auch gleich im Eckschränkchen den Schlüssel zur Kommode, öffnete deren oberste Schublade fast lautlos und brauchte nur ein paar Wäschestücke aufzuheben […] 103
    Heute sehe ich, wie das Glänzen der Diamanten und des begehrten Stückchens feuchten weiblichen Fleisches sich spiegelnd aufeinander beziehen. Im Text treten sie füreinander als Zeichen ein; Lust entsteht, indem sie sich überlagern. Heute kann ich mir Armands und Madame Houpflés Perspektive vorstellen, und spalte mich zudem noch einmal in mir selbst in drei Zeiten: die der Erzählung, den Anfang der siebziger Jahre (erste Lektüre) und heute. Selbst 1974 schaute ich nicht allein mit Armands Blick oder durch Thomas Manns Sprachbrille, wie ich bis eben noch glaubte, sondern auch mit meinen eigenen Augen. Nur für eine Sechstklässlerin war eine etwa 40-Jährige uralt. Dass Menschen über 40 empfindliche Körper unter Röcken oder Anzügen hatten? Sie salzten und pfefferten zu stark, aßen Käse, der stank bis zum Mond. Dass sie empfanden wie ich, konnte nicht sein.
    Darin war ich noch Kind. Beim Lesen aber entstand etwas anderes und kam in meinem Körper an, obwohl Thomas Mann sich an der Oberfläche des Textes alle Mühe gibt, es auszutreiben. Die Frau ist recht hässlich, sie sagt es selbst 104 , muss man es da nicht glauben? Felix Krull glaubt es, ich glaubte es, der Autor Thomas Mann glaubte es.
    Ich verlasse mich auf mich als Mädchen, das nichts von Thomas Mann, Misogynie oder Homosexualität wusste, dafür aber sehr wohl die flirrende Erotik dieser Seiten des Felix Krull sowie ihre doppelte Botschaft auffing: zum einen die Rede der Madame Houpflé über sich selbst, die der Autor ihr in den Mund gelegt hat. Zum anderen die Wahrheit des Textes: sexuelle Erregung, gesteigert durch das Risiko der Entdeckung, die Karnevalisierung sozialer Rollen, das fleischliche und finanzielle Übertreten der Eigentumsgesetze. Wenn Spannung entsteht zwischen den Absichten des Autors und dem tatsächlichen Agieren seiner Figuren, beginnt ein Text in Vielschichtigkeit zu leuchten. Die gespannten Nerven meines pubertären Körpers registrierten dies ebenso deutlich wie die Tatsache, dass der Körper der Frau, der hier handelte, anders war als der Körper, der beschrieben wurde. Sexy, voller Lust und vertraut mit Raffinessen, die ich wirklichen weiblichen Wesen in meiner Umgebung keine Sekunde zutraute. Felix ließ sich gut bezahlen und hatte zudem seinen Spaß an der Sache, wie auch Diane, die ihren Mann gleich doppelt betrog, und wie ich, die etwas lernte, etwas
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