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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden
Autoren: Ulrike Draesner
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warten, was passiert, und sind enttäuscht, als die Pfütze nicht gleich gefriert. Während Kinder in gewisser Weise ohne Zeit leben, wären wir nicht kindlich, sondern kindisch, wenn wir versuchten, Zeit zu verdrängen. Ich werde in drei Wochen 40, meine Mutter ist knapp über 70 und wird ein bisschen vergesslich. Thomas Mann war 79 Jahre alt, als Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull erschienen, eine 1910 begonnene Arbeit, die er immer wieder unterbrochen hatte.
    Der Rückgriff auf ein frühes Projekt und damit der Blick des Autors in die eigenen Schreibspuren aus mehr als 40 Jahren spiegelt sich in der für Krull gewählten Erzählsituation. Der gealterte Felix schreibt seine Autobiographie, ein mittelalter Mann also erzählt uns von einem sehr jungen, während in Wirklichkeit ein alter Mann, der auf die Projekte eines mittelalten Autors zurückgreift, die Feder führt in dem Roman, der sein (unvollendeter) letzter werden wird.
    Ich gehe ins Haus und koche eine große Kanne Tee. Niemand kommt mir nach. Also lege ich mich bäuchlings auf die Couch im Gästezimmer, um in den Bekenntnissen nach jener ersten Bettszene zu suchen, die mich wirklich beeindruckte. Sie kam mir fühlbar nahe, anders als die Fotostrecken der Bravo , obwohl diese naturnah zeigten, was man damals, angeblich, unbedingt sehen wollte. Thomas Manns Worte hingegen jagten mir Schauer über die Haut und versetzten mich in die Lage, mir etwas vorzustellen, das ich nicht kannte. Nur eines war mir daran vertraut: das wunderbare »in die Lage versetzt Werden«. Es ist, was ich bis heute ›lesen‹ nenne.
    Adels- und Geldwelt in Paris, eine Luxus-Bahnfahrt bei 50 km/h, Professor Kuckuck aus Lissabon, verwickelt in von Darwin geprägte Evolutionsideen, während seine nicht mehr ganz junge Frau sowie seine Tochter mit Felix techteln und mechteln. Die Mannsche Prosa im Krull hat etwas Altertümliches; gestelzt, fast brüchig in manchen Absätzen, um dann wieder erstaunlich kraftvoll eine Figur in ein, zwei Strichen lebendig werden zu lassen, überraschend und auch amüsant in ihrer Ironie. Stets allerdings mit einer spezifischen Langsamkeit, an der sich die Beschleunigung heutigen Sprechens oder (eher?) Redens so sehr spiegelt, dass ich fast erschrecke: darüber, wie viel sich seit 1974 verändert hat; darüber, wie alt ich selbst bin. Die Lektüre lässt mich fühlen, bis in welche Schichten des Herkommens ich als Leserin reiche, und gibt mir zu verstehen, dass, was wir als sprachlich normal empfinden, eine komplexe Mode ist. So wirft Krull mir ein unerwartet blankes Bild zur Zeitbedingtheit meines eigenen Schreibens und Lesens zurück.
    12-jährig, bäuchlings auf dem Bett, war mir all dies egal. Ich identifizierte mich mit Felix, dem Glücklichen. Er war jung, aber älter als ich, schön war er, attraktiv, gewitzt. Mein weibliches und sein männliches Geschlecht behinderten die Identifikation nicht im Geringsten. Um beim Lesen nicht allein zu bleiben, musste ich mich meist mit Männern identifizieren. Ich hatte es so gut gelernt, dass es mir gar nicht mehr auffiel. Hanni und Nanni waren meine Sache nie gewesen.
    Kein Wunder, dass ich mit Krulls Augen auf die alte Frau schaute, mit der er im Hotel schlief. So denke ich, während ich in dem angegilbten Fischer-Taschenbuch von damals noch immer die Stelle suche. Klar erinnere ich mich an das dämmrige Licht der Szene, schwere Vorhänge, eine Kommode. Sie, nackt, im Bett; er, nackt, umhergehend. So deutlich ist die Erinnerung auch an die Gefahr, entdeckt zu werden, dass sie fast ein Geschmack im Mund wird, denn dieses Risiko existierte gleich doppelt: Es umgab den Akt der Figuren ebenso wie meine Lektüre – wenn meine Mutter hereinkam und sah, was auf der Seite stand, war es vorbei mit dem Buch.
    Die Terrassentür schlägt. Mein jüngerer Neffe will Eis aus dem Kühlschrank, als Ersatz für das nicht sofort gefrierende Wasser draußen.
    – Ich schaue jetzt Skispringen an. Kommst du?, ruft meine Schwester.
    Johlen und Rasselschlagen, die Stimme eines Reporters. Erster Tag der Vierschanzentournee, erster Lauf. Ich bin auf der Couch liegen geblieben, aber lausche nach nebenan. Als der Reporter endlich einmal ruhig ist, höre ich das Rauschen der Ski auf dem Eis der Schanze. Ich mag den Augenblick des Absprunges, das Zehntel oder Tausendstel einer Sekunde, in dem sich der feste Boden für den Springer in ein Polster aus Luft verwandelt, unsichtbar, aber vorhanden. Pure Geschwindigkeit, umgesetzt in
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