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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden
Autoren: Ulrike Draesner
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Narration. Was den Sprachumgang angeht, war immer deutlich, wozu Thomas Mann zählte. Wer später kam, musste raffiniertere Zeitlöcher und anspruchsvollere narrative Schleifen bauen, man denke etwa an Vladimir Nabokov. Aber auch bei Mann fangen Figuren an, aus der Zeit zu fallen. Eben dies ist vielleicht die größte Hochstapelei des Autors: Sein letztes Werk erzählt ein mitteljunger Mann, der als Maske für einen Alten dient, über den jungen Mann, der er, angeblich, einmal war. Dabei tut er so, als seien all diese Personen eine Einheit. Doch der Text hat seine heimlichen Lücken, seine Gespensterstellen; nun braucht es dafür nicht mehr eigens eine Geisterbeschwörung wie noch im Zauberberg . Die Altersstufen geraten bereits dank der Erzählkonstruktion durcheinander, Zeit verwirbelt sich im unhintergehbaren Spiegelkabinett zwischen Autoren-Ich, Jungerzähler, Jüngsterzähltem und noch jünger Entworfenem. Als de Venosta und Krull handelseinig sind über den geplanten Identitätstausch, wandelt den Marquis ein Schwindel an vor dem bevorstehenden »wer ist wer?«. Schnell will er sich beruhigen: »Wo ich wirklich bin, bleibe ich ja, der ich bin.«
    Felix Krull indes antwortet, postmodern avant-la-lettre:
    Aber in der Welt draußen sind Sie ein anderer, nämlich ich. Man sieht Sie in mir. Sie treten mir Ihre Person ab für die Augen der Welt. ›Wo ich wirklich bin‹, sagen Sie. Aber wo wären Sie wirklich? Würde das nicht etwas ungewiss, wie für mich so für Sie? Und wenn diese Ungewissheit mir recht sein könnte, wäre sie es auch Ihnen? Wäre es Ihnen nicht unbehaglich, nur sehr lokal Sie selbst zu sein, in der übrigen Welt aber, also überwiegend, als ich, durch mich, in mir zu existieren? 105
    Noch drei Springer vor dem Deutschen. Ich sitze neben meiner Schwester. Mein eigenes Altern war mir mit zwölf irreal. Doch berührend, weil ungeschönt, kam das Begehren in Manns Text bei mir ebenso an wie die Wahrheit seiner Hauptfigur: nicht sie selbst zu sein und eben darin sie selbst zu werden – so sehr, dass Felix, als er nicht mehr hochstapelt, nur noch Erinnerung an sich ist. Luhmannscher Mensch vor der Epoche intrikater Rollendifferenzierungen, aber bereits in ihrem sprachlichen Vorhof. Eingebettet in eine Diktion aus richtig und falsch, echt und Hochstapelei, arbeitet er erfolgreich daran, die Trennschärfe dieser Begriffe aufzulösen. Wie das angeblich wabbelnde Fleisch der Frauen, ihre täuschenden Rollen. Im Porträt der Madame Houpflé sieht auch Thomas Mann uns an. Krulls Begehren richtet sich auf die Juwelen und ihre Besitzerin, ihres auf Beraubung – eine fast überdeutliche Sprache für nachfreudianische Zeiten. Die Szene stürzt dennoch nicht ab, weil Krulls Lust im Halbklaren bleibt für den Leser, untergründig aber durch den Text wandert als Begehren des Erzählers, eines alten Felix, nach sich und der Welt.
    Eben dies war, worauf die 12-Jährige reagierte. Es ist der Kern des Buches, wo es nicht gealtert ist, wo ich es nicht bin. Sein lebendiger Punkt, in dem etwas spricht, das mit einzelnen Vokabeln zu bezeichnen notorisch misslingt.
    Sprung. Der Mann ist 26 oder 27 Jahre alt, seit 20 Jahren trainiert er jeden Tag, auch im Sommer. Kraftaufbau, Stepper, Treibhöhe. Mein Herz schlägt, als führe ich selbst hinab. Du und deine Phantasie, sagte meine Mutter gern. Meine Phantasie ist mein Unglück und Glück. Schon fliegen die Ski in einem perfekten V. Der Schnee funkelt, die Sekunde des Absprungs ist vorbei. Ich habe sie wieder versäumt. Für sechs, sieben Sekunden befindet sich der Skispringer in der Luft. Ein ganzes Trainingsleben steckt in seinen Knochen, in jedem Muskel, in der Spannung der Sehnen, im Gesicht, im Gehirn, das sich über den Skiern wölbt, die Talsohle sieht, in den Hang schwebt nach unten, den Lärm der Zuschauer hört.
    Zeit dehnt sich. Die in die Fahrspur der Schanze gepflanzten Tännchen stehen auch in 100 Jahren noch – anderswo, haben sie Glück. Schnee fällt von den Zweigen der großen Nadelbäume. Der Springer lacht. Sein Vater schwingt eine Rassel über der Bahn. An meinen Eltern und meiner Schwester fällt das Altern mir auf. Wir teilen einen Erinnerungsraum von etwa 38 Jahren. Sie erinnern sich an anderes als ich, erinnern sich anders. Wir teilen nichts; wir haben verschiedene Leben gelebt.
    Er hat es geschafft. Meine Schwester, nach all der Spannung offensichtlich hungrig, geht zum Kühlschrank. Ich schaue den Skispringer an, den jetzt alle beim Vornamen
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