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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden
Autoren: Ulrike Draesner
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einer kollektiven Bewegung, ja Einheit verstanden wurde, Element eines Schwarms, nicht individualisiert. Erst vor diesem Hintergrund des »Zusammenseins« wird die Rolle des Helden greifbar. Er ist die Probe auf etwas wie Individuation. Der Versuch, ein gefüllteres »Ich« zu erfinden, es überhaupt zu denken, zu fühlen.
    Er ist die Figur, die real und metaphorisch über die Grenze reitet. Allein. Die im Wald auf Ungeheuer trifft.
    Der Held als Individuationsspiel. Als Modul, entwickelt aus einer Gemeinschaft, die ihn braucht, um sich ihrerseits zu entwickeln. Er wird aufgestellt und behängt. Ausprobiert. Er reitet ein. Man sucht zu verstehen, wer er ist, wofür er (als Mann, als Frau) taugt. ›Heldenepos‹ ist ein spätes Etikett. Das Nibelungenlied weiß über den Helden nicht Bescheid. Es widmet sich ihm und entfaltet ihn. Es zeigt, wie prekär er ist.
    Held: der Ein-Viele sein
    Dass das Nibelungenlied Tausende streitbarer Recken sowie Hunderte schöner Frauen bewegt, ist nicht angeblich mittelalterlicher Ausstattungs- und Übertreibungssucht geschuldet: Die Menge und die wenigen Einzelnen in ihren Auswirkungen auf alle sind das Thema des Epos. Es geht um den oder die eine – und ihre Bewegungen auf dem Hintergrund der mitbewegten Menschenleben. Es geht um nichts Geringeres als die Abschaffung von Schicksal. Das Geschehen wird, plötzlich und holpernd, ungeschickt und dilettantisch, mit viel Muskelkraft, List und wenig Klugheit oder Empathie von Menschen gemacht.
    Das Nibelungenlied zappt über Meere und Flüsse, durch Kämpfe zu Land, führt nach Sachsen, in die Niederlande, an den Rhein, durch Bayern an der Donau entlang nach Ungarn, erwähnt mehrfach den Orient, erreicht das Land der Nibelungen und die exzentrische Insel, die man Island nennt. Seine Handlung erstreckt sich über mehr als drei Jahrzehnte: Ein Jahr verbringt Siegfried an Gunthers Hof, um Kriemhild zu umwerben, dann fährt man auf Brautschau, nach der Hochzeit verstreicht ein Jahrzehnt bis zum Wiedersehen. Siegfried wird ermordet, 13 Jahre später hält König Etzel um Kriemhild an. Erneut vergeht ein Dezennium, das zweite Wiedersehen Kriemhilds und ihrer Brüder findet statt. Ein Vierteljahrhundert, Tausende von Kilometern, Tausende Toter. Alle Figuren folgen ihren Rollen, auch so mächtige Herrscher wie Etzel, Dietrich oder Rüdiger von Bern. Aber wenn der Held nur einer ist, der im Glanz der Erfüllung von Regeln strahlt, bleibt der Held eine langweilige Figur.
    So gelesen, erzählt schon das Nibelungenlied eine Antiheldengeschichte. Helden erzeugen Geschichten über die Fehler, die sie machen. Über menschliche Regungen wie Frauenliebe, Habgier, Trieb. Der Held hat Muskeln und einen Makel, er erscheint mit Schwert und Zwerg: Gunther, König der Burgunder, stimmt einem Betrug zu – dem bald weitere folgen; er verrät seine Verpflichtungen gegenüber seiner eigenen Schwester und Siegfried.
    An Siegfried ist der Helden-Makel in ein eindringliches körperliches Bild übersetzt: die weiche Stelle, an der ein Lindenblatt das Drachenblut von seiner Haut abhielt. Sie führt zu seinem Herzen – durch sie dringt Hagens Speer in ihn ein. Auch im metaphorischen Sinn war Siegfrieds »Herz« sein Schwachpunkt: Für die Frau, die er heiraten wollte, schlug er die Regeln des Kampfes und der Fairness in den Wind. Der Makel des Helden sind seine menschlichen Gefühle.
    Auch Brünhilde folgt ihnen; sie kann nicht vergessen, wie man ihr mitspielte, und sinnt auf Rache. Die sie am Ende jedoch nur an einem der Täter verüben lässt, Siegfried.
    Kriemhild wurde mehrfach betrogen (man ermordete ihren Mann, nahm ihr den Nibelungenschatz). Sie tritt aus dem Regelkodex heraus, der weibliches Verhalten bestimmt: Wie ihre Feindin Brünhilde plant sie, sich zu rächen.
    Hagen von Tronje leistet im ersten Teil des Liedes seinem ›herren‹ Gunther listig und bedingungslos Dienst. Er ermordet Siegfried, weil er sich zum Rächer Brünhildes macht, und erzeugt damit einen unlösbaren Zwiespalt. Wer Brünhilde verteidigt, müsste sich auch an Gunther rächen. Und da Gunther von Hagen beraten war, müsste Hagen am Ende gegen sich selbst vorgehen. Hagen wird indes keine tragische Figur; er empfindet diesen Konflikt nicht. An dieser Stelle unterscheiden sich mittelalterliche Epen deutlich (und vielleicht nicht wirklich verständlich) davon, was wir kennen: Hagen bleibt Gunther und Brünhilde treu. Der innere Konflikt, den wir erwarten würden, findet nicht statt. Er wird
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