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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte
Autoren: Ralf Isau
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PHASE I
HERAUSFORDERUNG
  

    9. November 1989

    »Im Schach nämlich geht es darum:
    das Ich des Gegners zu unterwerfen, 
    sein Ego zu zerbrechen und zu zermalmen,  
    sein Selbstbewusstsein zu zertreten – und es  
    zu verscharren und seine ganze verachtenswerte  
    sogenannte Persönlichkeit ein für alle Mal  
    zu Tode zu zerhacken und zu zerstampfen;  
    und dadurch die Menschheit von einer stinkenden  
    Pestbeule zu befreien.
    Es ist ein königliches Spiel«

    Bobby Fischer
      

    Es wird behauptet, bedeutende Ereignisse seien wie eine Frischzellenkur für das Gedächtnis. Noch Jahrzehnte später entsännen sich Menschen beim Gedanken daran genau an den Ort ihres Aufenthalts oder an die gerade verrichtete Tätigkeit. Umso sonderbarer mutet es an, wenn ausgerechnet der Mann mit dem besten Gedächtnis der Welt sich nicht mehr an einen solchen Tag erinnern konnte. Und trotzdem ist genau das geschehen.
    Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, war Tim Labin erst neun Jahre alt. Er litt zwar gelegentlich unter epileptischen Anfällen, doch seine Lehrer bescheinigten ihm einen überdurchschnittlich regen Verstand. Seinen Altersgenossen war er weit voraus. Der blinde Fleck auf der später so makellosen Netzhaut seines Erinnerungsvermögens rührte von tragischen Vorkommnissen her, die in besagter Nacht sein Leben nachhaltig verändern sollten.
    Wie Millionen andere Familien saßen auch die Labins an jenem Donnerstag vor dem TV-Gerät. Um sie herum vibrierte das ganze Wohnhaus wie eine riesige Lautsprecherbox, weil offenbar die ganze Nachbarschaft ebenfalls Westfernsehen guckte. Der Sender Freies Berlin, vor wenigen Monaten noch eine verbotene Fernsehstation auf der anderen Seite des sozialistischen Schutzwalls, strahlte ein weltweit einzigartiges Live-Programm aus.
    Am innerstädtischen Grenzübergang Bornholmer Straße hatte die Masse seit etwa neun Uhr abends »Tor auf!« skandiert, bis Viertel nach elf der Schlagbaum tatsächlich hochging.
    Ähnliches vollzog sich an den Übergängen Sonnenallee und Invalidenstraße. Seitdem war Berlin ein Tollhaus. Im Westen der Stadt fielen sich die Menschen um den Hals, am Brandenburger Tor tanzten sie auf der Mauer, und in den Straßen floss der Sekt in Strömen.

    Bei den Labins herrschte ergriffenes Schweigen. Robert und Hanna saßen im Wohnzimmer, einander bei den Händen haltend, auf der Couch. Ihre Blicke waren wie unter Hypnose auf die Mattscheibe gerichtet. Um ihre elterlichen Instinkte nicht zu wecken, verhielt sich Tim still. Er steckte zwar schon in dem lächerlichen blauen Frotteeschlafanzug mit dem Sandmännchen auf der Brust, durfte aber ebenfalls noch fernsehen.
    Plötzlich klingelte es an der Wohnungstür.
    Die Eltern zuckten zusammen, als flösse elektrischer Strom durch die Sprungfedern des alten Sofas.
    »Ziemlich spät für einen Besuch«, raunte Hanna. Ein besorgter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.
    Roberts Blick wanderte zur Standuhr neben dem Sekretär. Es war elf Minuten vor Mitternacht. Seine Stimme klang auf eine beschwörende Weise ruhig, als er antwortete: »Vielleicht nur jemand von den Nachbarn, der mit uns auf die Grenzöffnung anstoßen will. Ich schau mal nach.« Er schlüpfte in die Filzpantoffeln, und nachdem er den Fernseher leise gestellt hatte, schlich er aus dem Zimmer.
    Trotz des Lärms aus den oberen Stockwerken hörte Tim die Dielen im Flur knarren. Die Labins lebten in einer geräumigen Altbauwohnung in der Krausnickstraße 5 im Berliner Stadtteil Mitte. Mit den Nachbarn kam man gut aus. Wozu also die Geheimnistuerei?, fragte er sich.
    Erneut klingelte es, und die gedämpfte Stimme eines Mannes war zu hören. »Herr und Frau Labin? Ich muss Sie dringend sprechen. Bitte, öffnen Sie.«
    Im nächsten Moment war Robert wieder im Zimmer. Hastig schaltete er die Deckenleuchte und den Fernseher aus. »Es ist Gomlek«, zischte er und spähte vorsichtig durchs Fenster zur Straße hinab.
    »Wer?«, fragte Hanna.

    »Iwan Gomlek. Der Russe, der neulich bei uns in der Registratur herumgeschnüffelt hat. Rainer meinte, ich solle ihn nicht beachten. Gomlek sei von unseren Freunden, ein KGB-Stationsleiter aus Karlshorst.«
    Tims Mutter sprang von der Couch hoch. »Der sowjetische Geheimdienst? Meinst du, sie sind uns auf die Schliche gekommen?«
    »Psst!« Robert vollzog mit erhobenem Zeigefinger einen Kreis, als wolle er auf Kobolde oder andere unsichtbare, unter der Decke schwebende Lauscher hindeuten. Das Verhalten seiner Eltern war
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